Die Tote am Watt
erklären?
Andresens Schritte kamen in die Fischküche und verharrten hinter Mamma Carlotta. Sie spürte seine wachsamen Blicke in ihrem Rücken, seine Nähe drückte genauso wie das Stück Wäscheleine in ihrer Schürzentasche. Sie war allein mit ihm! Ganz allein. Die Kälte, die von ihm ausging, kroch in ihren Nacken. Sie rechnete jeden Augenblick damit, dass seine Hand nach ihr griff. Warum sagte er nichts? Warum fragte er sie nicht, ob sie telefoniert hatte?
Er stellte sich ebenfalls an die Anrichte, hielt aber einen Abstand von gut zwei Metern. Dann griff er ins Regal, holte einen Scheuerschwamm und begann, die Anrichte zu reinigen. Immer sorgfältig von oben nach unten, jeder feuchte Wisch korrekt neben dem vorherigen.
Mamma Carlotta hob den Blick nicht von den Paprikaschoten, die sie immer weiter zerkleinerte, bis sie viel zu klein für Antipasti waren. Aber sie traute sich nicht, aufzusehen, um nach dem nächsten Gemüse zu greifen, aus Angst, Andresens Blick zu begegnen. Was würde sie darin lesen? Mordlust? Rachedurst? Sie musste hier raus! Weg von dem Mann, der zwei Menschen auf dem Gewissen hatte! Der nicht vor einem dritten Mord zurückschrecken würde, wenn er begriff, dass sie ihn durchschaut hatte.
Das Scheppern der Ladenglocke zerschnitt das Schweigen. Andresen schien zu zögern, aber dann wandte er sich um und ging in den Laden.
Mamma Carlottas Gedanken begannen zu rasen. Was, wenn sie jetzt in den Ladenraum lief und »Mörder! Mörder!« schrie? Oder wenn sie an der Kundin vorbei aus der Ladentür flüchtete?
Doch Andresen blieb in der Türöffnung stehen, während er nach den Wünschen der Kundin fragte. So, als wollte er Mamma Carlotta den Fluchtweg abschneiden. Und dann schloss er die Tür zur Fischküche sogar. Bisher war sie immer geöffnet geblieben! Immer!
Mamma Carlotta lief in den Garten. Hinter dem Gartenhäuschen hatte sie eine Pforte gesehen, durch die würde sie entkommen.
Sie löste die Bänder, ließ die Schürze einfach vom Körper fallen und rannte los. An der Mauer entlang, die Andresens Grundstück von dem Kfz-Handel trennte, an dem Gartenhaus vorbei, hin zu der Pforte, die … verschlossen war. Mamma Carlotta rüttelte an der Klinke – vergeblich. Sie blickte hoch. Keine Chance, die Pforte zu überwinden. Die Mauer? Auch viel zu hoch!
Mamma Carlotta schluchzte auf. »Dino! Lucia! Helft mir!«
Jetzt musste Andresen klar sein, was sie wusste. Durch ihren Fluchtversuch hatte er Gewissheit bekommen. Es gab nur eine Möglichkeit – das Gartenhaus. Wenn der Schlüssel innen steckte, dann konnte sie sich dort verbarrikadieren, bis Hilfe kam. Hilfe von wem? Von Erik nicht. Wie sollte er wissen, dass sie in Gefahr war? Aber Hilfe von den Kindern! Felix und Carolin wussten, wo sie war, und würden dafür sorgen, dass sie gerettet wurde. Spätestens gegen Mittag würden sie ihre Nonna vermissen.
Die Tür war zum Glück nicht verschlossen. Mamma Carlotta huschte ins Gartenhaus, zog die Tür ins Schloss und spürte schon die Befreiung durch alle Glieder fließen, fühlte, wie ihr Körper leichter wurde, zur Ruhe kam, sich von der Angst befreite. Nur der Schlüssel fehlte – das Gartenhaus war nicht zu verschließen. Was hier aufbewahrt wurde, war es nicht wert, sicher verwahrt zu werden.
Die Angst war wieder da, machte sie schwach und hilflos, lähmte das Denken, die Vernunft und ihren Mut. Mamma Carlotta lehnte die Stirn an die Tür und versuchte zu glauben, dass sie mit ihrem Gewicht den Eingang verbarrikadieren konnte. Da hörte sie das Geräusch. Ein leises Scharren, ein Klicken, Holz auf Holz. Ein Schritt auf nacktem Beton. Angehaltener Atem, der sich befreite. Und dann ein Poltern, zwei Sprünge, ein heranschnellender Körper, Nähe, Geruch, ein Arm, der sie von hinten umfasste und ihre Kehle zudrückte. Und dann eine heisere Stimme: »Still! Sonst bist du tot!«
Mamma Carlotta hätte trotz der Warnung gern geschrien, hätte es womöglich auch getan, wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre. Aber der Unterarm drückte weiterhin auf ihre Kehle, würgte sie, nahm ihr die Luft. Der Mann machte ein paar Schritte rückwärts, zog sie mit sich und zischte dabei immer wieder: »Keinen Mucks! Sonst bringe ich dich um.«
Schließlich waren sie an der rückwärtigen Wand des Häuschens angekommen, Mamma Carlotta spürte den Widerstand, den der Körper des Mannes an ihren weitergab. Die Funken beendeten den Tanz vor ihren Augen, der Druck auf ihrer Kehle wurde erträglicher, sie
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