Die Tote am Watt
des weißen Kliffs führten, von dort ging es auf vielen Holzstufen hinunter zum Strand. Die Kinder tobten lachend hin und her, Mamma Carlotta stand da, sah aufs Watt hinaus und lauschte auf das Klingen der Natur. Das Säuseln des Sandes, das heisere, höhnische Lachen einer Möwe, das Summen des Windes und das Lispeln des Dünengrases.
Felix hob ein paar Muscheln aus dem feuchten Sand und legte sie seiner Nonna in die Hände. Mamma Carlotta betrachtete sie eingehend. Es kam ihr vor, als hätte das Meer, das sich ständig verändern musste, sich in einer Muschel eine feste Gestalt gesichert. In manchen Muscheln fanden sich kleine, überschlagende Wellen, in anderen Wasserwirbel und winzige Strudel. Tiefes bedrohliches Nachtblau gab es in der einen, zartes Rosa und Gelb in einer anderen. Keine Muschel hatte eine Farbe, die es nicht auch am Himmel oder im Meer gab.
Die schönste steckte sie in ihre Jackentasche. »Die nehme ich mit nach Umbrien.«
Sie stiegen die Treppe zum Kliff wieder hoch und wanderten über die Holzstege zurück. In die stille Einsamkeit brach von ferne eine Bewegung. Ein Wagen tastete sich auf die Heide zu, ein Lieferwagen, ein zerbeulter Lieferwagen. Er blieb an der Einfahrt des Platzes stehen. Mamma Carlotta sah, dass Tove Griess ausstieg und sich suchend umsah. Als er zu ihnen herüberspähte, hob sie winkend die Hand. Aber Tove wandte sich abrupt um und drehte ihr den Rücken zu.
Mamma Carlotta war enttäuscht, aber dann fiel ihr ein, dass Tove sie wohl nicht kompromittieren wollte. Er wusste ja, dass Erik ihren Kontakt mit dem vorbestraften Tove nicht guthieß. Wie rücksichtsvoll von ihm!
Mamma Carlotta ging bereitwillig auf sein Spiel ein und sah konsequent in eine andere Richtung, während sie mit den Kindern auf die Fahrräder zuging, die am Rande der Heide auf sie warteten. Erst als sie sich wieder auf ihren Sattel schwang, warf sie einen Blick zurück. Tove war nicht mehr allein. Anscheinend hatte er sich hier mit einem Mann verabredet, der gerade auf ihn zuging und ihm die Hand reichte. Er war groß und schlank, und sein hageres Gesicht wurde von einer roten Schirmmütze überschattet. Warum traf Tove sich mit Fietjes altem Freund?
Gaby Woicke gehörte zu den Frauen, die unkritisch werden, wenn sie jemanden vor sich haben, der ihnen zuhören will. Sobald sie etwas gefragt wurde und alles danach aussah, dass jemand echtes Interesse an ihrer Antwort hatte, verlor sie Ängste, Hemmungen und auch jede Vorsicht. Das hatte Sören schon während des Telefongesprächs zu spüren bekommen, was ungefähr eine Strecke von dreißig Kilometern in Anspruch genommen hatte. Kein Zweifel focht sie an, dass es richtig sein musste, zwei fremde Männer zu empfangen, die ihr zuhören wollten. Und die Frage, ob die beiden wirklich von der Polizei waren, stellte sie sich anscheinend nicht. Als Erik und Sören vor ihrer Tür erschienen, war sie jedenfalls überrascht, dass die beiden es für nötig hielten, ihr die Dienstausweise vorzulegen.
Sie war die Fünfte auf Sörens Liste. Die Wohnungen der anderen vier hätten erheblich verkehrsgünstiger gelegen, aber der erste Teilnehmer der Therapiegruppe wollte sich zunächst bei Dr. Detlef Baron vergewissern, ob es richtig sei, über ein anderes Mitglied der Gruppe Auskunft zu geben, der Zweite hatte keine Zeit, und der Dritte wollte nicht an die Therapiegruppe erinnert werden. Das vierte Mitglied war eine Frau und prinzipiell zur Aussage bereit, aber ihr Mann würde jeden Augenblick von der Arbeit zurückkommen, und der liebte es nicht, wenn Besuch seinen Feierabend störte. Gaby Woicke war also ein Lichtblick für Sören. Sie nahm zwar nur am Rande zur Kenntnis, dass es nicht um sie, sondern um Björn Mende ging, war aber auskunftswillig und stellte Sören damit erst mal zufrieden.
Als er den roten Knopf seines Handys drückte, war er bereits darüber informiert, dass Gaby Woicke bis zum achten Lebensjahr von ihrem Vater verprügelt worden war, bevor sich ihre Mutter scheiden ließ und einen anderen Mann heiratete, der seinerseits die Mutter verprügelte. Als auch der ausgezogen war, kam der dritte Ehemann, der wiederum von der Mutter verprügelt wurde. Und Gaby schien immer zwischen den Fronten gestanden und jedes Mal was abbekommen zu haben. Kein Wunder, dass sie früh geheiratet hatte. Aber dummerweise war sie an einen Mann geraten, der ihr schon in der ersten Woche der Ehe eine Ohrfeige verpasste, die ihr Hörvermögen dauerhaft schädigte, und sie
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