Die Tote von San Miguel
weitere Runde Drinks bestellte, klingelte sein Mobiltelefon. Einen Moment lang überlegte er, ob er den Anruf so lange ignorieren sollte, bis die Mailboxansprang. Denn ein Anruf bei einem Bullen um drei Uhr in der Frühe konnte nur eins bedeuten: Irgendwo war irgendwer gestorben oder gerade dabei, es zu tun.
Doch allen guten Vorsätzen zum Trotz klappte Diaz das Telefon auf und hielt es sich ans Ohr. »Diaz.«
Kapitel 3
Die zentrale Außenstelle der Policía Preventiva von San Miguel bestand aus einem einzelnen großen Raum im ersten Stock eines Gebäudes an der Westseite des jardín . Momentan war das Zimmer mit der hohen Decke nicht besetzt, die farblosen Wände kahl bis auf ein Schwarzes Brett für offizielle Verlautbarungen und eine große schmucklose Wanduhr. In einem abgedunkelten Verschlag am Ende der Polizeistation lag Sergeant Ramon Silva zufrieden schnarchend lang ausgestreckt auf einer Pritsche.
Als Consuela draußen zu kreischen begann, verwandelte sich das unheimliche Echo ihrer Schreie, das durch die Tiefen seiner Träume hallte, in das Weinen seiner Mutter auf der Suche nach ihrem verlorenen Sohn. »Hier bin ich, hier bin ich!«, wimmerte Silva, doch seine Mutter konnte ihn nicht finden. Ihr Weinen wurde zuerst lauter und entfernte sich dann wieder. Der Sergeant stieß ein gequältes Stöhnen aus.
Er erwachte übergangslos und stemmte sich auf den Ellbogen hoch, die Augen in seinem grobschlächtigen Gesicht zu schmalen Schlitzen zusammengepresst. Abgesehen von dem kaum hörbaren Trippeln von unsichtbaren Mäusepfoten hinter den Wänden und dem melancholischen Ticken der Wanduhr herrschte Stille.
Silva setzte sich auf den Rand der Pritsche und rieb sich die Augen. Hatte er gerade von irgendwoher einen Schrei gehört? Unablässig passierte irgendeine Scheiße, nur um ihm selbst die kleinsten Freuden zu verderben, die das Leben ihm gönnte. Ständig wurden Bürger belästigt, ausgeraubt, vergewaltigt oder ermordet. Und von ihm, RamonSilva, erwartete man, dass er jedes Mal augenblicklich zur Stelle war, zur Rettung der Opfer herbeieilte.
Er hasste die Nachtschichten. Und wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, musste er zugeben, dass er sein Leben als Bulle ganz allgemein hasste. Die Bezahlung war lausig, sogar die Kosten für seine Dienstwaffe und Munition musste er aus eigener Tasche bezahlen. Außerdem war die Arbeit viel zu gefährlich. Tag und Nacht lauerten irgendwelche Möchtegern- Los-Zetas , die sich einen Namen machen wollten, hinter der nächsten Straßenecke nur auf eine günstige Gelegenheit, einem Bullen eine Kugel in den Rücken zu jagen.
Über das Waschbecken gebeugt, spritzte sich Silva kaltes Wasser ins Gesicht. Er betrachtete sich im Spiegel, und einen Moment lang blickte ihm ein völlig fremder Mann entgegen. Schmale gierige Augen, schlaff herabhängende, stoppelbärtige Wangen, eine flache, mongolisch anmutende Nase und ein breitlippiger Mund, der jetzt wütend zu einem schmalen Strich zusammengekniffen war. Ein Hemd mit offenem Kragen, speckig und abgewetzt, enthüllte einen bulligen Nacken. Silva spuckte angewidert einen Klumpen Schleim in das Porzellanbecken und wandte sich ab.
Wo, zur Hölle, steckte Corporal Florio? Vermutlich trieb er sich wieder irgendwo draußen mit seiner fetten puta von einer Freundin herum. Silva beschloss, nach unten zu gehen, um ein bisschen frische Luft zu schnappen und eine Zigarette zu rauchen. Und um Florio aus den Klauen dieser Verführerin zu retten.
Kurz darauf stand er unter der Kolonnade, eine massige, gedrungene Gestalt, und starrte finster in die neblige Dunkelheit, eine selbst gedrehte Zigarette im Mundwinkel. Irgendwo in der Nähe sprang der Motor eines VW-Käfers mitdem schrillen Jaulen eines Rasenmähers an. Fuhr Florios Freundin nicht einen Käfer?
»Florio, du Sohn eines syphilitischen Mulis!«, rief Silva. »Donde usted?«
Wie als Antwort auf seine Frage tauchten unvermittelt drei Gestalten aus dem dicken Dunst auf, der den jardín verschleierte. Silva erkannte Florio sofort anhand seiner schlanken Statur, die zu einem Langstreckenläufer gepasst hätte. Die anderen beiden, ein Mann und eine Frau, waren ihm unbekannt. Die Frau, die ein Cocktailkleid trug, war barfuß.
Silva erwartete die drei breitbeinig, die Füße einen halben Meter weit gespreizt, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Que pasa?« , erkundigte er sich, als sie den Rand der Parkanlage erreicht hatten und die beiden Stufen zur Straße
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