Die Tote von San Miguel
hatte.
Diaz richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Moza, der hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte und in einem ledergebundenen Notizbuch schrieb.
»Gibt es sonst noch irgendetwas, das Sie mir sagen könnten?«, erkundigte er sich.
»Alter Anfang zwanzig. Möglicherweise magersüchtig. Keine Nadeleinstiche. Eine alte Narbe von einer Blinddarmoperation am Bauch. Ein Tattoo in Form eines Geckos auf dem rechten Schulterblatt, aber keine Piercings. Außerdem hatte sie sich eine Weile nicht mehr die Zähne geputzt.«
Diaz schnaubte leise. »Und sie ist eine gringa und nicht irgendeine unbedeutende Einheimische.«
»Sie ist ihrem Mörder bestimmt nicht rein zufällig zum Opfer gefallen«, stimmte ihm Moza zu.
»Jeder wird von mir erwarten, dass ich den Fall innerhalb von zwei Tagen löse. Möglichst, ohne dass etwas darüber in den Zeitungen erscheint. Gringa -Mörder sind nicht gut fürs Geschäft. Machen die touristas nervös, und dann bleiben sie weg. Als wären die Kartelle und ihre endlosen Blutfehden nicht schon schlimm genug.«
Diaz trat an Mozas Schreibtisch und griff nach einer kleinen Briefmappe, die in einer Tasche der Toten gefunden worden war. Es war ein altmodisches Stück, dessen Verschluss wie zwei ineinander verschränkte Arme gestaltet war. Er ließ ihn aufspringen und den Inhalt, den er bereits kannte, auf die Schreibtischplatte fallen. Ein zusammengeknüllter 50- peso -Schein. Drei kleine Münzen. Ein Sankt-Christopher-Medaillon. Und ein texanischer Führerschein.
Der Führerschein war auf den Namen Amanda Smallwood in Dallas, Texas ausgestellt. Geboren am 28. 1. 1989. Größe: 1,60 Meter. Augenfarbe: Braun. Geschlecht: Weiblich. Besondere körperliche Merkmale: Tot.
Das amtliche Foto auf dem Führerschein war zweifellos das der jungen Frau, die auf dem Edelstahltisch am anderenEnde des Raumes zu verwesen begann. Doch es wurde ihrer Schönheit nicht gerecht, die selbst der Tod nicht hatte auslöschen können. Nach einer Weile verstaute Diaz den Inhalt wieder in dem Mäppchen und schob es sich in die Jackentasche.
»Kein großer Nachlass«, stellte er fest.
Dr. Moza klappte sein Notizbuch zu. »Mag sein«, sagte er. »Aber Sie wissen ja, Inspector, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in den Himmel kommt.«
»Nur wenn Sie an diesen Hokuspokus glauben.« Diaz schüttelte eine weitere Zigarette aus der zerknautschten Montana -Packung in seiner Jackentasche und zündete sie an.
»Sie schicken die Leiche für eine vollständige Obduktion nach Guanajuato?«
»Natürlich.«
»Lassen Sie es mich wissen, sollte dabei noch irgendwas Interessantes herauskommen.«
Diaz’ Absätze klapperten auf dem gefliesten Fußboden, als er zum Ausgang ging. Er blieb noch einmal an der Tür stehen und warf Moza einen kurzen Blick zu. »Und kein Wort über die Sache zu den Reportern oder irgendwem sonst.«
Als Diaz aus Dr. Mozas Klinik auf eine schmale kopfsteingepflasterte Gasse hinaustrat, die nach Urin und Fäkalien stank, spürte er eine Welle der Erschöpfung über sich zusammenschlagen. Die Gasse war in beiden Richtungen von Stuckfassaden gesäumt, die in allen erdenklichen Farben bemalt waren. Ein schmutzig brauner Straßenköter blieb kurz stehen, um das Bein wie als Parodie eines Grußes inDiaz’ Richtung zu heben, bevor er weiterlief und am Ende der Straße verschwand.
Das alles war Diaz nur zu gut vertraut. Abgesehen von seiner Zeit an der Universität von Monterey, wo er Strafrecht studiert hatte, einem Jahr beim Militär und fünf Jahren als angehender junger Polizist in Guanajuato, hatte Diaz sein ganzes bisheriges Leben in San Miguel zugebracht. Eine überschaubare Welt.
Die frühe Morgensonne begann bereits, den nächtlichen Nebel aufzulösen. Die überall in der Stadt läutenden Kirchenglocken riefen die Gläubigen zur Morgenmesse.
Ein Café an einer Straßenecke öffnete gerade. Diaz ging hinein und bestellte eine Tasse Kaffee und einen Teller churros . Da er der erste Kunde des Tages war, schenkte ihm die Frau des Besitzers hinter der Kasse ein warmes Lächeln. Er war hier kein Unbekannter. Nachdem er seine churros verzehrt hatte, wischte er die Zuckerkrümel fort, die ihm auf die Hose gerieselt waren, und zündete sich eine Zigarette an.
Es ereigneten sich glücklicherweise nur wenige Morde in San Miguel. Und der Mord an einer gringa war ein wirklich rara avis . Die Gemeinde der hiesigen Exilanten war eine ganz eigene Welt. Vor fünf Jahren
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