Die Tote von San Miguel
herabstiegen.
Selbst aus dieser Entfernung konnte er die Erschütterung in Florios Gesicht erkennen. Der Corporal war so bleich wie ein Schuljunge, den eine der Nonnen beim Masturbieren erwischt hatte.
»Im jardín liegt die Leiche einer jungen Frau«, sagte Florio. »Ermordet. Und entsetzlich verstümmelt.«
»Ermordet, sagst du?«
Die Hände der Frau bewegten sich in nervöser Fahrigkeit. Ihre Zungenspitze fuhr über ein dünnes Rinnsal aus Blut und Schnodder, das ihr aus der Nase lief. Was hatte es damit auf sich? Silva betrachtete den teuren Anzug des Mannes und die goldenen Perlenohrstecker der Frau. Touristen aus Mexico City auf Kurzurlaub in San Miguel, vermutete er, die ganz unvermittelt in einen Mordfall hineingeschlittert waren.
Als sie alle unter der Kolonnade standen, ergriff Silvaeine Hand der Frau. Er sah ihr in die Augen und ließ den Blick über ihren Ausschnitt hinunterwandern, die Zigarette noch immer im Mundwinkel. Sie war unverkennbar attraktiv, auf die typisch ausgezehrte Art einer Großstädterin. Eine eingebildete Nutte aus der Hauptstadt.
»Es tut mir leid, dass Sie einen solchen Schock erleiden mussten, señora . Akzeptieren Sie bitte meine Entschuldigung dafür, dass Ihr Besuch unserer kleinen Stadt von so etwas Schrecklichem wie einem Mord verdorben worden ist.«
Ihre Worte waren wie ein billiges dulce . Klebrig süß. »Irgendjemand war sehr grausam zu der Kleinen, bevor er sie getötet hat«, sagte sie.
Der Blick ihres Begleiters huschte zwischen Silva und ihr hin und her. Silva begegnete ihm angriffslustig, während er eine Qualmwolke ausstieß. Er wandte sich Florio zu. »Geh zurück zu der Leiche und pass auf, dass sich niemand am Tatort zu schaffen macht. Ich begleitete die Herrschaften in der Zwischenzeit nach oben und rufe die Judiciales .«
Florio wirkte ängstlich. Er hüpfte nervös von einem Fuß auf den anderen.
»Sie ist doch schon tot, um Christi willen«, knurrte Silva. »Es gibt nichts, worüber du dir jetzt noch Sorgen machen müsstest. Oder glaubst du etwa an wandelnde Untote, Corporal?«
Oben im ersten Stock, außerhalb des Nebels, war es wärmer. Die Frau ließ sich auf eine Sitzbank sinken, das Gesicht in den Händen vergraben. Der Mann lehnte sich über den Tresen, der den beengten Bürobereich voller Schreibtische vom Warteraum für all diejenigen trennte, die nicht der Polizei angehörten, die Schuldigen wie die Unschuldigen.
Silva nahm eine Flasche Tradicional aus einem Schrank und stellte sie zusammen mit drei Schnapsgläsern auf denTresen. »Trinken Sie einen Schluck, señor . Das hilft, die Kälte zu vertreiben. Ich denke, Ihre Freundin könnte auch einen vertragen.«
Er ging zu seinem Schreibtisch, wählte eine Nummer und sprach eine Weile mit gedämpfter Stimme in den Telefonhörer. An der Decke summte eine Leuchtstoffröhre. Der Mann begann, im Wartebereich auf und ab zu gehen.
Nachdem er das Telefonat beendet hatte, kehrte Silva zum Tresen zurück und schenkte sich ein Glas ein. »Ein Inspector von unserer Policía Judicial wird in wenigen Minuten hier sein. Er musste geweckt werden und wird keine gute Laune haben.«
Silva trank seinen Tequila. »Wie heißen Sie?«, fragte er den Mann.
»Leo. Leo Bremmer. Aus Ciudad de México . Ich kann nicht glauben, in was wir da reingeraten sind. Hätte ich nur auf sie gehört«, er nickte in Consuelas Richtung, »wären wir einfach weitergegangen.«
»Und ihr Name?«
»Consuela Domingue. Eine Geschäftspartnerin.«
Na klar , dachte Silva. Wenn es offiziell wurde, hießen Huren immer Geschäftspartnerinnen. Er ließ sich den Tequila langsam durch die Kehle rinnen und betrachtete Leo dabei eindringlich. Dann hob er die Flasche, füllte sein Glas erneut und beobachtete die Frau auf der anderen Seite des Tresens, die sich aufgesetzt hatte, nachdem ihr Name gefallen war. Sie überprüfte mit hoffnungsloser Miene ihr Make-up in einem winzigen Schminkspiegel, befeuchtete zwei Fingerkuppen mit der Zunge und wischte einen eingetrockneten Blutfleck unter ihrer Nase fort.
»Vielleicht, señor Bremmer«, sagte Silva, »wird es ja gar nicht nötig, dass Sie oder señora Domingue tiefer in diesefurchtbare Sache hineingezogen werden müssen. Sie sehen nun wirklich nicht wie Mörder aus.«
Bremmer sah ihn mit ausdrucksloser Miene an. »Sie war bereits tot, als wir sie gefunden haben.«
»Natürlich. Aber wie konnten Sie das wissen? Haben Sie ihren Puls gefühlt? Sie irgendwie berührt?«
»Wie meinen Sie
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