Die Toten der Villa Triste
dem Campo di Marte wohnte, sie hätte die geschlossenen Züge gesehen. Züge mit lauter Viehwaggons, aber durch die Schlitze hätten sich menschliche Hände gereckt.
An diesem Abend kam, gerade als ich heimgehen wollte, einer der Ärzte in unser winziges Schwesternzimmer. Er erklärte uns, dass alle freien Tage und alle Urlaubsanträge gestrichen seien, da niemand wusste, was demnächst passieren würde. Dann verkündete er, dass die Deutschen Mussolini »befreit« hätten.
Die erste Ankündigung überraschte mich nicht, und die zweite hätte mich auch nicht überraschen dürfen, nachdem ich am Vorabend mit Enrico gesprochen hatte. Trotzdem war ich entsetzt. Als ich zwei Abende später die Stimme des Duce aus dem Radio hörte, fühlte ich mich, als würde ein Wesen aus einem Alptraum zu mir sprechen.
Nachdem ich weder anrufen noch ein Telegramm oder einen Brief schreiben konnte, blieb mir nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass Lodovico auf wundersame Weise auftauchen würde. Aber das tat er nicht. Dafür kam Emmelina wieder zu uns. Ich war an dem Morgen, als Enrico verschwunden war, wie geplant auf dem Weg zur Arbeit bei ihr vorbeigegangen und hatte ihr erklärt, dass Isabella sich geirrt hätte. Mamas Grippe sei doch nicht ansteckend. Ehrlich gesagt war es nur ein Schnupfen. Eine nervöse Reaktion nach der anstrengenden Geburtstagsfeier.
Soweit ich mich erinnerte, hatte ich Emmelina nie zuvor belogen, und ich wusste genau, dass sie mir ebenso wenig glaubte, wie sie Isabella geglaubt hatte. Ich stand in der Tür zu ihrem Häuschen und trat von einem Fuß auf den anderen, während Emmelina mich schräg ansah, ohne einen Ton zu sagen. Als sie mich schließlich fragte, ob wir etwas von Rico gehört hätten, schüttelte ich nur den Kopf. Dann sagte ich, ich müsse jetzt los, weil ich sonst zu spät käme, schwang mich auf mein Fahrrad, strampelte wie wild und spürte Tränen in den Augen, weil soeben etwas unendlich Kostbares zerbrochen war.
Emmelina spürte es ebenfalls. Die folgende Woche war fast schlimmer, als wenn sie gar nicht mehr zu uns gekommen wäre. Sie kam auf die Minute pünktlich, bereitete wortlos das Essen und deckte den Tisch, außerdem achtete sie immer darauf, die Küchentür zu schließen, während wir aßen, was sie noch nie getan hatte. Sie erkundigte sich nicht mehr nach Rico oder Lodo oder irgendjemandem sonst. Eigentlich redete sie kaum noch mit uns. Es gab keine geflüsterten Küchengespräche mehr. Mir fiel auf, dass das Brotmesser wieder in der Schublade lag.
Dann, eines Abends gegen Ende September, erwartete sie mich, als ich nach Hause kam, in ihrem großen schwarzen Mantel unten am Hügel. Auch ohne sie anzusehen, wusste ich, dass sie ihre Uniform nicht anhatte und dass sie auch nicht oben im Haus gewesen war. Als sie mir ihren Schlüssel übergab, brach mir das Herz.
»Mein Bruder«, sagte sie. »Er hat einen Bauernhof bei Marzabotto, in den Bergen, am Monte Sole.«
Ich hatte schon von dem Bauernhof am Monte Sole gehört. Sie hatte mir Geschichten darüber erzählt, in denen es größtenteils um tote Tiere oder Unfälle gegangen war. Ich nickte.
»Giorgio meint, es ist besser, wenn wir dorthin ziehen«, sagte sie. »Solange es noch geht.«
Giorgio war Emmelinas Mann, ein dürrer Stecken, der ein Maultier und einen Karren besaß und sein Geld als Kohlenhändler verdiente. Ich wusste, dass er in Florenz geboren war und die Stadt kaum je verlassen hatte. Und ich wusste, weil Emmelina es mir erzählt hatte – um mich vor den innerverwandtschaftlichen Feindseligkeiten zu warnen, auf die ich vorbereitet sein sollte, wenn ich Lodo heiratete –, dass Giorgio ihren Bruder aus tiefstem Herzen hasste und seit knapp zwanzig Jahren kein Wort mit ihm gesprochen hatte. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass sie ausgerechnet auf seinem Hof den Krieg aussitzen wollten.
Ich schloss sie in die Arme, atmete noch einmal ihren tiefen, erdigen Geruch ein, als könnte ich ihn dadurch ewig bewahren, und erklärte ihr dann, dass bald alles ausgestanden sei. Dass ich sie verstehen könne und sogar ihrer Meinung sei und dass sie lieber gleich abreisen sollten, solange es noch ging, solange die Züge noch fuhren und solange sie noch einen Passierschein und einen Platz in einem Zug bekommen konnten. Ich erklärte ihr, dass ich zurechtkommen würde. Dass wir alle zurechtkommen und uns wiedersehen würden. Bald. Noch während ich das sagte, wusste ich, dass jedes Wort gelogen war.
Als ich
Weitere Kostenlose Bücher