Die Toten der Villa Triste
schließlich verstummte, nahm Emmelina kurz meine Hand. Dann sagte sie: »Sag Rico, ich wünsche ihm Glück.«
Ob es mir nun gefiel oder nicht, Emmelinas Abschied offenbarte die Kluft, die mich von meiner Familie trennte. Wahrscheinlich war sie schon immer da gewesen, aber jetzt war sie nicht mehr zu übersehen. Ich war Emmelinas Liebling gewesen, ich hatte tief im Herzen gewusst, dass sie mich am liebsten gehabt hatte, und ich war wütend auf die anderen, und zwar ausnahmslos, weil sie Emmelina vertrieben hatten. Am wütendsten war ich auf Issa.
Am Abend, nachdem Emmelina uns verlassen hatte, konnte ich sie kaum ansehen.
Es war eigenartig – oder vielleicht ein böses Omen –, doch im Krankenhaus wurde es eher still, nachdem die Deutschen einmarschiert waren, und am Ende der Woche bekam ich den Sonntag frei. Bis zu diesem letzten Sonntag im Monat, dem 26. September, hatte ich mich endlich damit abgefunden, dass es sinnlos war, weiterhin neben dem Radio auszuharren und auf Nachrichten zu warten, aus denen ich schließen konnte, ob Lodovico tot oder am Leben war. Insgeheim hoffte ich immer noch, dass er auf wundersame Weise rechtzeitig zu unserer Hochzeit erscheinen würde. Aber ich glaubte nicht mehr, dass ich oder sonst jemand etwas dazu beitragen konnte, dass es so kam. Im Gegenteil, inzwischen glaubte ich nicht mehr, dass irgendjemand viel tun konnte, um was auch immer zu bewirken. Von Tag zu Tag schienen schlechtere Nachrichten zu kommen.
Die Deutschen hatten eine faschistische Marionettenregierung aus dem Hut gezaubert, und die neue Republik von Salò erstand. Aus dem Radio wurden wir allabendlich mit den Gesängen zu Ich glaube an die Wiederauferstehung des faschistischen Italiens, ich glaube an Mussolini traktiert, gefolgt von dem dämlichen Lied »Giovinezza«. Eigentlich sollten wir aufstehen, wenn wir es hörten. Il Duce höchstselbst wetterte mit monotoner Regelmäßigkeit aus dem Lautsprecher, und wenn wir einmal BBC empfingen, wofür wir inzwischen wahrscheinlich verhaftet werden konnten, erfuhren wir nur Schlechtes. Die Alliierten saßen in Salerno fest. Es sah so aus, als könnte Kesselring sie tatsächlich ins Meer zurücktreiben.
Doch trotz alledem hatten wir das herrlichste Wetter. Silberne Vormittage, gefolgt von blauen Nachmittagen und verschleierten goldenen Abenden. Die Tage zogen vorüber, gedankenlos in Sonne und Schatten, und ich beschloss, dass ich, nachdem ich schon die Gelegenheit bekommen hatte, wenigstens einen davon nutzen konnte. Direkt nach dem Frühstück, einem Stück trocken Brot mit Kaffee, das ich allein in der stillen Küche verzehrte, ging ich nach oben, holte meine Malsachen aus dem Versteck hinten im Kleiderschrank, wischte den Staub ab und nahm sie mit auf die Terrasse.
Meine Eltern hatten mir die Malsachen zu meinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt. Ich hatte mich im Kunstunterricht in der Schule wacker geschlagen und fertigte gern kleine Aquarelle an, auch wenn ich kein echtes künstlerisches Talent besaß. Die Bilder bewahrte ich in einem Album auf. An diesem Morgen beschloss ich, Mamas Geburtstag zu malen, die alten Männer im Frack und die strahlenden Spinnweben der Musik, die sich in den Bäumen verfangen hatten.
Ich hatte eine knappe Stunde an meinem Bild gesessen, als Issa hinter mich trat.
Ich wünschte mir, sie würde weggehen, aber sie blieb stehen. Issa verstand es immer wieder, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sie bestand einfach darauf, dass man sie ansah, wenn sie in einen Raum oder in deine Nähe kam. Zorn wallte in mir auf. Er begann zu brodeln wie ein ungebändigter See. Ich tupfte die Pinselspitze in eine Farbschale. Dann stach ich darauf ein, dass sich die Borsten bogen, und überzog den Himmel über meinem Aquarell mit schwarzen Streifen.
Issa zog einen Stuhl hervor und setzte sich neben mich an den Tisch. Ohne mich zu fragen, schlug sie mein Album auf und blätterte durch meine Bildersammlung. Ich hatte mehrere Porträts von Lodovico angefertigt, die alle nicht besonders gelungen waren. Auf einem stand er neben einer dunkelhaarigen Frau im Ballkleid, die vielleicht ich hätte sein können.
Issa betrachtete ihn kurz, dann sagte sie: »Massimo hat mir einen Heiratsantrag gemacht.«
Ich wollte ihre Worte an mir abprallen lassen, ich wollte alles, was sie sagte, an mir abprallen lassen, aber das konnte ich nicht.
»Massimo?«
Die Vorstellung, dass Isabella Massimo heiraten könnte, war lächerlich. Andererseits hatte Aphrodite auch
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