Die Toten der Villa Triste
immerhin Soldaten. Sie wussten zumindest, worauf sie sich einließen. Issa und ihre albernen Freunde hingegen hatten keine Ahnung, was sie da redeten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Massimo je auf etwas Größeres als einen Hasen geschossen hatte, und das wahrscheinlich mit der Schrotflinte seines Vaters.
»So«, sagte ich. »Lass mich das noch einmal klarstellen. Was genau wird diese Einheit tun, die du mit deinen Freunden bilden willst?«
»Das habe ich dir doch erklärt.« Issa klang übertrieben gut gelaunt, so als wollte sie einem Kleinkind zureden. »Wir werden kämpfen.«
»Wir.« Wieder dieses Wort. Angst begann, in mir zu pochen. Ich lachte so gehässig, wie ich konnte. »Ein Haufen Studenten?«, fragte ich. »Mit Mistgabeln und Schrotflinten? Was wollt ihr denn unternehmen?«, fragte ich. »Allein gegen das Dritte Reich antreten? Hitlers Armee zurückschlagen?«
Issa sah mich an. Dann stand sie auf. Plötzlich wirkte sie gar nicht mehr fröhlich. Stattdessen hatte ihre Miene etwas Hartes bekommen. Und etwas viel Beängstigenderes.
»Ja«, sagte sie und ging ins Haus zurück.
Bis zum Mittag hatte eine hohe Wolkenbank alles eingetrübt. Es war immer noch warm, aber ich spürte die Hitze nicht mehr. Ein klammes Gefühl hatte mich befallen. Ich fing ein neues Bild an, eines von Papa, der mit seinem alten weißen Hut auf der Terrasse saß und sich am Tisch Notizen machte, gab aber auf, als es an den Hintergrund ging. Ich wollte die Berge nicht malen. Stattdessen saß ich da und starrte sie an. Ich schaute immer noch, als die ersten Bomben fielen.
Später sollten die Alliierten steif und fest behaupten, sie hätten versucht, den Bahnhof Campo di Marte zu treffen. Es war, sollte man meinen, ein ziemlich großes Ziel, das nicht so leicht zu verfehlen war, und in den folgenden Tagen machte der makabre Witz die Runde, dass es ziemlich schlecht um Amerika und Großbritannien stehen musste, wenn sich die Piloten nicht einmal mehr Brillen leisten konnten. Denn auch wenn ein paar Fabriken in Rifredi getroffen wurden, blieb der Bahnhof unversehrt. Die meisten der an diesem Nachmittag abgeworfenen Bomben gingen über Plätzen und Straßen nieder. Wo sie in Wohnhäuser einschlugen. Und im Kinderkrankenhaus.
Natürlich wusste ich das damals nicht, während ich die Bombardierung beobachtete. Ich bekam nur mit, dass es diese eigentümlichen Geräusche gab und dass gleich darauf im Osten der Stadt Brände aufflammten.
Wie hypnotisiert stand ich auf und sah zu, wie Rauchpilze aufstiegen, wie sie sich rasend schnell schwarz färbten und dann den Himmel auslöschten wie den Himmel auf meinem Aquarell. Das ist es, dachte ich. Das ist unser Turin, unser Cagliari, unser Grossetto. Dort hatten sie an Ostern das Karussell bombardiert. Und den Priester getötet, während er gerade die Absolution erteilt hatte. Genauso wie vier kleine Mädchen, die auf einer Wiese Gänse gehütet hatten.
Isabella kam auf die Terrasse gelaufen.
»Bomben«, stammelte ich, ohne sie dabei anzusehen.
Mir kam der Gedanke, dass keine von uns je zuvor eine Bombe hatte explodieren sehen. Nicht dass es etwas ausgemacht hätte. Ich wusste genau, was hier geschah. Ich erkannte es wieder, so wie man etwas aus einem Traum wiedererkennt. »Sie bombardieren uns.«
Issa packte mich an der Schulter, bohrte die Finger in mein Fleisch. Ich drückte meine Hand auf ihre. Von der Terrasse aus konnten wir die Flieger als schwarze Punkte erkennen. Es erfolgten dicht hintereinander mehrere Explosionen. Eigentlich müsste es auch gedonnert haben, aber merkwürdigerweise kann ich mich abgesehen von den ersten Schlägen an kein Geräusch erinnern. Dann schließlich durchstieß ein hohes, wiederholtes Jaulen den Nachmittag.
Später sollte ich begreifen, dass es von einer Sirene kam, dass uns dieses Heulen warnen sollte. Es setzte ein, sobald die letzte Bombe gefallen war.
»Komm!«, sagte Issa zu mir. »Schnell! Schnell!«
Sie hatte mich am Arm gepackt und zog mich über die Terrasse zum Haus. Ich sah sie an. Etwas bebte. Erst dachte ich, es sei der Erdboden, dass die ganze Stadt nach diesen Explosionen zu zittern begonnen hätte. Dann erkannte ich, dass ich selbst zitterte.
»Cati!«, schrie Isabella mich an. Sie packte mich bei den Schultern und rüttelte mich wach. »Du musst sofort ins Krankenhaus!«
Ich starrte sie an. Ich wollte schon sagen, dass mir nichts passiert sei. Dann begriff ich, so als hätte sie mit ihrem Rütteln etwas in meinem Gehirn
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