Die Toten der Villa Triste
Nachbarfenster eingeschossen hatte, oder über die Blechpfeife, die er im Laden unten an der Straße gestohlen hatte. Ich fragte mich, ob ich die Hand heben, mir eine Nadel in den Daumen stechen und mein Blut auf seines drücken sollte.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Es tut mir wirklich leid, Cati. Dass ich nicht hier sein werde. Dass du dich um alles kümmern musst. Um Mama. Und Papa«, ergänzte er im Nachhinein. »Und um das Haus. Ich melde mich bei dir, sobald ich kann. Ehrenwort.«
Ich wollte ihn anbetteln, seine Entscheidung noch einmal zu bedenken. Aber ich konnte nicht. Niemandem wäre geholfen, wenn Enrico in einem Arbeitslager in Deutschland interniert würde. Ich versuchte, tapfer zu klingen.
»Wo wollt ihr hin?«
In die Schweiz, nahm ich an. In der Schule war Rico so gern geklettert. Er hatte die Sommerurlaube genossen, die mein Vater mit uns unternommen hatte und während deren wir auf den Hirtenpfaden durch den Apennin gewandert waren. Ich stellte mir eine Reihe von Fahrten auf Zügen, Lastwagen oder Bauernkarren vor, durchsetzt von langen Wanderungen, die sie erst in die Alpen und dann auf die andere Seite der Alpen bringen würden – über einen Pass, der viel zu hoch, zu kalt und zu gefährlich war, als dass ich ihn je bewältigen könnte.
Er blieb kurz stumm. Dann sagte er: »Es gibt da eine Gruppe – du wirst noch von ihnen hören – die CLN.«
»CLN?«
Enrico lächelte. »Il Comitato di Liberazione Nazionale« , sagte er. »Deshalb sind wir hier. Um uns dem Kampf anzuschließen.«
»Dem Kampf?«
Ich glaube, ich sprach die Worte gar nicht aus. Ich hatte sie an diesem Abend schon einmal gehört, durch einen Nebel aus Wein und Kerzenlicht hindurch. Beim ersten Mal hatte ich nicht zugehört, ich hatte in dem glückseligen Gefühl geschwelgt, dass mein Bruder zu Hause war, dass die ganze Familie am Esstisch saß und dass sogar Mama glücklich aussah. Diesmal klangen die Worte scharf und spitz, sie schienen sich in meinen Magen zu bohren, als hätte ich jedes einzelne davon schlucken müssen.
»Carlo kommt aus dem Veneto«, sagte Enrico. »Er kennt ein paar Leute. Dort organisieren sie sich schon. Wir werden es hier genauso machen. In den Bergen.«
Meine Familie verkündete immer, dass sie das Haus aus einem Grund besonders lieben würde und dass Mamas Großvater es auch aus diesem Grund gekauft hätte, statt sich in der Stadt oder am damals schicken Poggio Imperiale niederzulassen: weil man von der Terrasse aus die Berge sehen konnte. Hinter der Stadt erhoben sich die braunen, grauen oder grünen Hänge. Über ihnen thronten die zu jeder Jahreszeit schneegekrönten Gipfel.
Enrico nickte.
»Wir verschwinden noch heute Nacht«, sagte er. »Morgen früh sind wir nicht mehr da.«
Er hielt Wort. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, waren Enrico und Carlo verschwunden. Bis zum Mittag waren die Deutschen einmarschiert. Inmitten einer schweigenden Menge beobachtete ich, wie sie den Lungarno entlangmarschierten, in blank polierten Stiefeln, unter dem Motorenlärm ihrer Geländewagen, Mannschaftswagen, Lieferwagen, in makellosen Uniformen und unter der flatternden Spinne mit den vier gebrochenen Beinen.
Nur für den Fall, dass jemand den Ernst der Lage nicht erfasst hatte, wurden an diesem Nachmittag die Nachrichten von Radio Roma auf Deutsch ausgestrahlt. Am nächsten Morgen sprach Kesselring persönlich zu uns. Der »lächelnde Albert« eröffnete uns, dass wir »zu unserem eigenen Schutz« ab sofort unter Kriegsrecht standen. Alle Fernsprech- und Zugverbindungen waren von den Deutschen übernommen worden. Ab sofort waren keine privaten Briefe mehr zugelassen. Es würde keine »unkontrollierten« Telefonate mehr geben. Und keinen Widerstand. Wer streikte oder alliierten Kriegsgefangenen »Hilfe oder Unterstützung gewährte«, würde vor ein Kriegsgericht gestellt. Ehemalige Angehörige der italienischen Streitkräfte hatten sich sofort beim nächsten deutschen Kommandoposten zu melden. Es würden Einheiten von italienischen Freiwilligen gebildet, behauptete er, um den glorreichen Kampf fortzusetzen. Was mit denen geschehen sollte, die sich nicht freiwillig meldeten, wurde nicht gesagt.
Das war auch nicht nötig. Die Besetzung hatte uns vielleicht eingeschüchtert und gelähmt, so als wären wir Tiere, die von einem lauten Krach erschreckt worden waren, aber wir waren nicht blöd. Niemand brauchte das auszusprechen. Am nächsten Tag erzählte mir im Krankenhaus eine Schwester, die nahe
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