Die Toten des Meisters - Konrads erster Fall
Prolog
„Ich sag dir, Bruder, dieser Mann ist der T eufel persönlich.“ Bruder Georg zupfte an seiner Kutte aus grauem, grobem Wollstoff. Er war nervös, schaute immer wieder hinüber zu dem Mann, den er für einen Mörder hielt. Nein, mehr noch – dieser Mann dort an der Holzreling des kleinen Frachtschiffes, war – davon war Georg überzeugt – ein Schlächter.
Bruder Eckbert, so wie Georg in die graue Kutte der Minores Fratres, der Minderen Brüder, gekleidet, schien sichtlich verlegen. „Bruder Georg, das sind schlimme Vorwürfe, die Ihr erhebt. Denkt nach, seid Ihr sicher? Ihr könnt doch kaum das Gesicht des Mannes erkennen.“
„Das Gesicht – nein, das liegt im Schatten, aber seine Hand, die gezackte Narbe auf dem Handrücken, die ist unverkennbar.“
Bruder Georg schaute starr auf das Wasser des Rheins. Er und sein Mitbruder hatten das kleine Handelsschiff in Bingen bestiegen. So wie alle Mönche, die den Lehren des heiligen Franz von Assisi folgten, hatten auch sie ein Armutsgelübde abgelegt. Georg verzichtete gern auf Besitz, nicht aber auf die Gelegenheit, schneller ans Ziel zu gelangen. Statt eines tagelangen Fußmarsches und der Gefahr, Strauchdieben zum Opfer zu fallen, hatte er kurzerhand die Gelegenheit genutzt, um einen Teil seiner langen Reise per Schiff zurückzulegen. Die Nacht über würden sie an Land festmachen, so wie es bei fast allen Rheinschiffern üblich war, doch dann, im Morgengrauen, würde man weiterfahren. So konnten er und Eckbert zur Terz, sicher aber vor dem Mittagsläuten bei ihren Mitbrüdern im Kloster in Andernach sein. In der Stadt am Rhein waren die Minores Fratres seit vielen Jahren ansässig.
Bruder Georg hatte sich bereits in Worms mit Eckbert zusammengetan, um gemeinsam zu reisen. Doch Georg hatte einen weitaus längeren Weg hinter sich: In Rom, der heiligen Stadt, lag der Anfang seiner Reise. Hierher war er vor vielen Jahren mit einer großen Pilgergruppe gekommen. Seine Mitbrüder verließen die Stadt nach und nach wieder. Doch er blieb am Tiber. Bis er eines Tages einen Brief aus seinem Heimatkloster in Lübeck bekam.
Nachdem er die Nachricht gelesen hatte, wusste er, dass die Zeit, zurückzukehren, gekommen war. Damals – vor mehr als einem Jahr – hatte er noch geglaubt, dass es ihm leicht fallen würde. Er liebte lange Fußmärsche, genoss es, in der Natur allein zu sein. Aber nach ein paar Wochen musste er schmerzhaft erkennen, dass er nicht mehr der junge Mann von einst war. Und noch eines stellte er fest: Die Kutte schützte ihn nicht vor Straßenräubern. Beim ersten Mal, noch weit vor den Alpen, stahlen sie ihm seine spärliche Reisekasse. Beim zweiten Mal schlugen ein paar heruntergekommene Wegelagerer mit Knüppeln auf ihn ein, voller Wut und Zorn, dass da jemand noch weniger besaß als sie selbst. Kaufleute, die sich zu ihrem Schutz von ein paar bewaffneten Söldnern begleiten ließen, fanden ihn blutüberströmt am Straßenrand. Sie hatten Erbarmen, luden ihn auf einen ihrer Wagen und brachten ihn zum nächsten Kloster. Hier versorgte ein alter Mitbruder seine W unden und versuchte ihn davon zu überzeugen, dass er sich besser noch eine Weile erholen sollte. Doch die Zeit drängte. Hoch oben auf den steilen Bergpässen lag der erste Schnee. Georg fürchtete, im Tal bei seinen Mitbrüdern überwintern zu müssen, also setzte er, schneller als ihm selbst lieb war, seine Reise fort. Zunächst schien er Glück zu haben. Die einzelnen Tagesmärsche waren anstrengend, aber er erreichte jeden Abend eine Herberge. Doch dann überraschte ihn – hoch oben in den Bergen – ein Unwetter. Innerhalb weniger Minuten wurde es bitterkalt. Ein Sturm trieb Schnee und Eis vor sich her, und Georg, in seiner dünnen Kutte und den offenen Sandalen, war alldem schutzlos ausgeliefert. Gegen eine Felswand geduckt schloss er mit seinem Leben ab. Er spürte, wie ihn seine Kraft verließ, und gab sich dem Wunsch hin, einfach nur einzuschlafen. Der Allmächtige schien aber andere Pläne zu haben. Georg wurde gerettet: Ein Bergbauer fand den Körper klamm und steif an einen Stein gelehnt. Zwei Wochen lag Georg bewusstlos in der Hütte des Bauern, dann erwachte er. Die Zehen an seinem linken Fuß waren für immer verloren. Dass er überlebt hatte, schien ihm ein Zeichen des Herrn, und so machte er sich, nachdem die Pässe wieder schneefrei waren, erneut auf den Weg.
Georg erinnerte sich schon gar nicht mehr an die ungezählten Tage und W ochen des weiteren
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