Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
Sonnenglitzern auf dem Wasser im Tal. Hier könnte sie sich wohl fühlen. In dieser Einöde. Der Stille. Der klaren Luft. Hier würde sie gern einmal eine einsame Hütte mieten und lange Wanderungen unternehmen. Angeln. Im Sommer das Licht genießen und im Winter am offenen Kaminfeuer sitzen und lesen.
Vielleicht irgendwann einmal.
Vermutlich nie.
Als ein Schild anzeigte, dass es links nach Rundhögen ging, verließ sie die E14 und kurz darauf auch ihren Mietwagen, griff nach ihrem Rucksack, holte die Gebirgskarte über das Gebiet heraus und lief los.
Hundertzweiundzwanzig Minuten später hielt sie an. Etwas außer Atem, aber keineswegs müde. Sie war nicht so schnell gelaufen, wie sie konnte, auf langen Strecken teilte sie sich ihre Kräfte lieber ein. An einer Bergflanke ließ sie sich nieder und trank etwas Wasser, ihre Atmung normalisierte sich schnell wieder. Anschließend setzte sie ihren Feldstecher an die Augen und nahm das kleine Holzhaus ins Visier, das etwa dreihundert Meter entfernt lag. Sie war am richtigen Ort. Die Hütte sah genau so aus wie auf dem Foto, das sie von ihrem Informanten bekommen hatte.
Soweit sie wusste, war es heutzutage nicht mehr erlaubt, am Fuß des Berges zu bauen, wo die kleine Hütte lag. Doch sie war bereits in den dreißiger Jahren errichtet worden. Irgendein Direktor mit guten Beziehungen zum Königshaus hatte einen Unterstand gebraucht, um sich bei seinen Jagden in diesem Gebiet aufzuwärmen. Im Grunde konnte man das Gebäude kaum als Haus, ja nicht einmal als Hütte bezeichnen. Wie groß mochte es sein? Achtzehn Quadratmeter? Zwanzig? Gezimmerte Wände, kleine Fenster und ein schmächtiger Schornstein, der aus der Dachpappe emporragte. Zwei Stufen führten zu einer Tür an der Schmalseite, zehn Meter daneben lag ein kleinerer zweigeteilter Verschlag; die eine Hälfte mit Tür, vermutlich ein Plumpsklo, die andere ohne, höchstwahrscheinlich ein Holzvorrat, denn es stand ein Hackklotz davor.
Hinter den grünen Mückennetzen am Fenster nahm sie eine Bewegung wahr. Er war zu Hause.
Sie legte das Fernglas beiseite, steckte die Hand erneut in den Rucksack, holte die Beretta hervor und montierte mit schnellen, routinierten Bewegungen den Schalldämpfer. Dann stand sie auf, schob die Waffe in die eigens dafür angefertigte Tasche in ihrer Jacke, hängte sich den Rucksack wieder um und ging weiter. Hin und wieder warf sie einen Blick zurück, konnte aber nirgendwo eine Regung ausmachen. Die Hütte lag ein gutes Stück von dem markierten Weg entfernt, und jetzt, Ende Oktober, wimmelte es in dieser Gegend nicht gerade von Wanderern. Seit sie das Auto verlassen hatte, war sie erst zweien begegnet.
Knapp fünfzig Meter vor dem Ziel zog sie die Pistole aus der Tasche. Sie wägte die Möglichkeiten ab. Anklopfen und schießen, sobald er öffnete, oder darauf vertrauen, dass das Haus unverschlossen war, hineinschleichen und ihn überraschen. Sie hatte sich gerade für die erste Variante entschieden, als die Tür des Hauses geöffnet wurde. Die Frau erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde, ging dann aber blitzschnell in die Hocke. Ein Mann in den Vierzigern trat auf die kleine Treppe. Es war ein offenes Gelände, das keinerlei Verstecke bot. Das Einzige, was sie tun konnte, war, so still wie möglich in der Hocke zu bleiben. Jede Bewegung konnte seine Aufmerksamkeit erregen. Ihr Griff um die Pistole wurde fester. Selbst wenn er sie sähe, bliebe ihr noch genügend Zeit, um aufzuspringen und auf ihn zu schießen, ehe er entkommen konnte. Knapp vierzig Meter. Sie würde definitiv treffen, ihn vermutlich auch töten, aber optimal wäre dieser Ablauf nicht. Im schlimmsten Fall konnte er sich verletzt in die Hütte schleppen und dort eine Waffe holen. Wenn er sie jetzt entdeckte, wäre alles viel riskanter.
Doch er bemerkte sie nicht. Er schloss die Tür, ging die zwei Stufen hinab, dann nach rechts und steuerte auf den Schuppen zu. Sie beobachtete, wie er die Axt nahm, die im Hackklotz steckte, und Holz zu hacken begann.
Langsam stand sie auf, zog sich ein wenig nach rechts zurück, damit sie vom Haus verdeckt war, falls der Mann eine Pause machen, den Rücken strecken und in die schöne Landschaft hinausschauen würde.
Die Axt. Konnte sie zum Problem werden? Vermutlich nicht. Wenn alles nach Plan lief, würde er sie gar nicht rechtzeitig als Bedrohung wahrnehmen und ihr daher auch nicht mit einer solchen Nahkampfwaffe gefährlich werden können.
Sie blieb direkt hinter dem Haus
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