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Schiff der tausend Träume

Schiff der tausend Träume

Titel: Schiff der tausend Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Fleming
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Erster Teil Der Aufbruch
    1912 – 1914
    1
    England, April 1912
    Sie waren viel zu früh dran, standen mitten in einem Stapel aus Koffern, Reisetaschen und Paketen, schielten mit einem Auge auf den Uhrturm aus Terrakotta und strengten sich an, um das ferne Dröhnen einer Lok zu hören, verbrannte Kohle zu riechen, den Ruß und die Hitze mitzubekommen, welche die Ankunft des Londoner Zuges in Trinity Street verkündeten. May Smith sah zu, wie sich der Bahnsteig mit Reisenden füllte. Manche trugen Aktentaschen, andere wiederum Pakete, alle hatten mit sich selbst zu tun. Sie schaute zu ihrem Mann hinüber, der seinen besten Überzieher aus zweiter Hand und einen Filzhut trug und Ellen auf dem Arm hielt. Sie war in ihr neues Häubchen und den Mantel gepackt und mit einem Schal gegen die kalte Brise geschützt, die von den Hochmooren herab über den Bahnsteig fegte. Die Augen hatte sie weit aufgerissen, verunsichert durch das geschäftige Treiben um sie herum. So viele Geräusche, die das Kind aufzunehmen hatte: Gepäckträger, die ratternde, mit Koffern beladene Handkarren herumfuhren, Waggontüren, die zugeschlagen wurden, die Pfiffe, die der Wind vom gegenüberliegenden Bahnsteig herüberwehte.
    Ihr Zug musste bald eintreffen. Es war der frühe Zug, den die Geschäftsleute in ihren feinen Anzügen und Melonen nahmen, der Zug, der Baumwollwaren aus Lancashire nach London brachte. Am liebsten hätte sie wie ein Kind laut herausposaunt: »Ratet mal, wohin wir fahren? Ihr werdet es nicht glauben«, aber natürlich hielt sie den Mund. So beschwingt sie auch war, sie schämte sich dennoch ihrer Aufregung.
    Diese Menschen waren es gewohnt zu reisen, im Gegensatz zu ihr, bekleidet mit ihrer praktischen dreiviertellangen, marineblauen, auf Taille geschnittenen Jacke, die sich über ihrem langen Rock aus Serge und ihre auf Hochglanz polierten Stiefel bauschte, ihr helles Haar hatte sie ordentlich unter einen schwarzen Strohhut mit breiter Krempe gesteckt. Alles war nützlich, dazu bestimmt, keinen Schmutz zu zeigen und die lange Reise zu überstehen, hoffte sie zumindest.
    May ging in Gedanken ihre Liste noch einmal durch: eine Blechdose mit Sandwichs und Äpfeln, eine Flasche Milch für Ellen, ein paar feine Kekse und Naschwerk, falls ihnen schlecht werden sollte, ein Bilderbuch, saubere Windeln und ein feuchtes Tuch in einer Toilettentasche für die Reise.
    Ihre Papiere und Dokumente waren sicher in der Ledertasche aufgehoben, die Joe als Abschiedsgeschenk von der Baumwollspinnerei bekommen hatte. In ihrer Reisetruhe befanden sich die beiden mit ihren Initialen bestickten Baumwolllaken, die sie an ihrem letzten Arbeitstag von den jungen Frauen im Webschuppen überreicht bekommen hatte. Sorgfältig in den Falten geborgen waren Geschenke für Onkel George in Idaho: eine Zeitung aus seiner alten Heimatstadt, von einem Fotografen angefertigte Familienporträts, eine schicke Teedose und eine signierte Bibel aus ihrer Sonntagsschule.
    »Er hat Verspätung«, flüsterte May, aber Joe lachte.
    »Das liegt an dir, du hast uns zu früh hierhergedrängt. Schau, das Signal am Gleis hat gewechselt. Jetzt ist es gleich so weit …« Er lugte über den Bahnsteigrand, was sie nervös machte.
    »Tritt zurück«, bat sie. »Ellen bekommt Angst. Von mir ganz zu schweigen.« Die Lokomotiven erschreckten sie; die sahen aus wie große schwarze, feuerspuckende Drachen. Sie spürte den Windzug, Hitze auf ihren Wangen, das ohrenbetäubende Dröhnen, als das Ungeheuer in den Bahnhof donnerte und in einer Dampfwolke kreischend zum Halt kam.
    »Hast du unsere Fahrkarten alle?«, fragte sie Joe noch einmal.
    Ellen brach bei all dem Lärm in Tränen aus.
    »Gib sie mir!«, drängte May und schlang die Arme um das schreiende Kind. »Schh, das ist nur eine Puff-puff, die uns in eine neue Welt bringen wird. Sag Bolton Lebewohl. Wir brechen zu unserem Abenteuer auf.«
    Sie zwängten sich in einen Waggon zweiter Klasse, und Joe prüfte nach, ob ihre Reisetruhe in den Gepäckwagen gebracht wurde, bevor er es sich bequem machte. Ellen protestierte weiter.
    »Sie ist gleich wieder still«, sagte May und lächelte den Passagieren zu, die sie entsetzt ansahen. Sie musste Ellen nur einen Keks in die Hand drücken und das Beste hoffen. Sie hatte Erfolg, und kurz darauf knabberte Ellen zufrieden vor sich hin.
    Verärgert erwiderte May die Blicke. Sie hatte das gleiche Recht, hier zu sitzen, wie ihre Mitreisenden auch. Joe und sie mochten zwar Waisen sein, doch sie

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