Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
nicht mehr daran, dass sie eine Antwort erhalten würde, aber sie weigerte sich aufzugeben, und hatte ihnen weiterhin geschrieben. Ihr Schwedisch verbessert, an ihrer Handschrift gearbeitet und sich die bürokratische Sprache angeeignet. Inzwischen war sie so versiert darin, an die Behörden zu schreiben, dass viele ihrer Freunde sie um Hilfe baten.
Dann sah sie ihn. Den Briefträger. Wie immer radelte er den Fußweg entlang und begann seine Runde bei Aufgang 2, fuhr dann zu 4 und 6, bis er schließlich die 8 erreichte. Ihre Hausnummer.
Sie wartete so lange, bis sie ihn aus der Nummer 6 gehen sah, ehe sie langsam aufstand und in den Flur trat. Sie versuchte, so leise wie möglich zu sein, nicht weil es nötig war, sondern weil sie sich einbildete, dass die Stille ihre Chancen in irgendeiner Weise erhöhte.
Bisher hatte es nicht viel geholfen.
Sie stellte sich an die Tür und lauschte. Nach einer Weile hörte sie das träge, metallische Klicken der Haustür, die dort unten aufgezogen wurde. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie er zum Aufzug ging und den Knopf drückte. Er fuhr immer erst ganz hinauf, um sich anschließend Stockwerk für Stockwerk nach unten zu arbeiten. Das war seine Routine. Ihre bestand darin, im Flur zu stehen, ohne einen Mucks von sich zu geben.
Sie drückte sich gegen die Tür und lauschte. Zwei Arten von Geräuschen. Zum einen draußen, in weiter Ferne, zum anderen ihr eigener Atem und das Surren des Kühlschranks in der Küche. Zwei verschiedene Welten, voneinander getrennt durch die Tür und einen stählernen Briefschlitz. Jetzt näherten sich Schritte, und sie presste sich noch dichter an die Tür. Dies war ein geradezu heiliger Moment für sie.
Entweder, es war Allahs Wille oder nicht.
So einfach war das.
Mit einem für Shibeka fast ohrenbetäubenden Schlag wurde die Klappe des Briefschlitzes nach innen gedrückt, und eine Reihe bunter Werbekataloge fiel vor ihr auf den Boden. Die Geräusche und die Welt dort draußen verschwanden, als Shibeka sich konzentriert über den Haufen beugte, der nun auf dem Teppich im Flur lag. Unter dem Wochenangebot des Supermarkts lag ein weißer Umschlag.
Vom Schwedischen Fernsehen.
Diesmal war es Allahs Wille gewesen.
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E s war nicht ihre Schuld.
Oder doch, eigentlich schon, aber es war ein Irrtum gewesen. Jeder konnte sich ja wohl mal irren. Marias Wut war nicht angemessen. Natürlich war sie müde, aber wer war das nicht? Und Karin hatte diesen Umweg schließlich nicht absichtlich verursacht.
Es war ein Irrtum.
Und das, obwohl noch vor wenigen Stunden alles so schön gewesen war. Trotz des Regens.
Im Juli war Maria fünfzig geworden, und Karin hatte ihr eine Fjäll-Wanderung geschenkt. Auf dem sogenannten Jämtlands-Dreieck, das die Bergstationen Storulvån, Blåhammaren und Sylarna miteinander verband.
Ihrer Meinung nach sorgte schon das dafür, dass die Reise luxuriöser wirkte, als sie es eigentlich war. Die Namen klangen wie exotische Orte. Eine Gebirgstour, aber mit einfachen Wanderungen; so hatte sie es sich vorgestellt. Keine Strapazen. Kurze, leicht zu bewältigende Tagestouren und im Anschluss eine Dusche, Sauna, Essen und Wein, wenn man an der jeweiligen Fjäll-Station ankam. Karin war vor vielen Jahren schon einmal da gewesen und hatte diese Mischung als genau richtig empfunden. Ein stärkendes Naturerlebnis, aber auch ein bisschen Luxus.
Genügend Zeit, um miteinander zu reden.
Es war ein schönes Geschenk. Und ein teures. Inklusive Anreise, vier Übernachtungen und Abendessen für sie beide lagen die Kosten im fünfstelligen Bereich, aber das war Maria ihr wert. Sie war seit vielen Jahren Karins beste Freundin und immer für sie da, auch in Zeiten, in denen andere sich zurückgezogen hatten. Als sie an Brustkrebs erkrankte, sich scheiden ließ, ihre Mutter starb. Sie hatten schon einiges miteinander durchgemacht. Natürlich hatten sie auch viel Schönes erlebt, aber im Fjäll waren sie noch nie zusammen gewandert. Überhaupt war Maria noch nie nördlicher gekommen als bis Karlstad. Also wurde es höchste Zeit.
Karin hatte das letzte Wochenende gewählt, an dem die Fjäll-Stationen noch geöffnet hatten. So entgingen sie dem relativ großen Trubel im Sommer, und außerdem sollte Maria auch ein wenig Zeit für die Planung haben und sich rechtzeitig freinehmen können. Gleichzeitig hatte Karin gehofft, der Herbst wäre bis dahin schon so weit fortgeschritten, dass sie einen hohen, klaren Himmel und eine
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