Die Toten Von Jericho
denken. Außerdem geht es überhaupt niemanden etwas an. Und wenn wir die ganze Nacht hier zusammensäßen! Das wäre übrigens gar keine schlechte Idee. Ich hätte große Lust dazu, und wenn Sie auch wollen …«
»Das dürften Sie doch jetzt eigentlich wissen! Sie können sich also Ihre Worte sparen. Holen Sie mir lieber ein Stück von dem Kuchen dort drüben. Und hier!« Sie leerte mit einem Zug den Rest ihres Weins. »Sie können mir auch gleich noch ein Glas Wein mitbringen. Aber bitte voll!«
Nachdem beide ihren Kuchen aufgegessen und sie sein Angebot, ihr Kaffee zu holen, dankend abgelehnt hatte, nutzte er eine Gesprächspause und bat sie, ihm von sich zu erzählen. Sein Interesse schien sie zu freuen, denn sie begann, ohne zu zögern.
Ihr Geburtsort war Rochdale. Sie war eine intelligente, dazu sehr strebsame Schülerin gewesen und hatte es so geschafft, ein Stipendium an einem College in Oxford, der Lady Margaret Hall, zu bekommen. Dort hatte sie Neuere Sprachen studiert und nach dem Examen, das sie mit der Note gut bestanden hatte, Oxford verlassen, um die Auslandsabteilung eines kleinen, in Croydon ansässigen Verlages zu übernehmen. Die Firma war erst wenige Jahre zuvor von zwei ebenso ehrgeizigen wie geschäftstüchtigen Brüdern gegründet worden und verlegte Lehrbücher für Englisch als Fremdsprache. Die rasche Zunahme der Auslandsaufträge hatte es angebracht erscheinen lassen, die Geschäftsverbindung zu den Kunden auf dem Kontinent zu intensivieren. So war sie zu ihrem Job gekommen. Die Tätigkeit erwies sich als interessant und war sehr gut bezahlt, zumal wenn man bedachte, daß sie von geschäftlichen Dingen bisher keine Ahnung gehabt hatte. Es gehörte zu ihren Aufgaben, Charles, den älteren der beiden Brüder, auf den häufig notwendigen (manchmal auch nicht so notwendigen) Reisen zu begleiten. Ihre Arbeit machte ihr großen Spaß, und so blieb sie acht Jahre dabei. Der Verlag florierte, die Zahl der Beschäftigten stieg von zehn auf über zwanzig, ein neues Verlagsgebäude wurde errichtet, die modernsten Maschinen angeschafft. Manchem war der geschäftliche Erfolg der beiden Brüder nicht ganz geheuer, und es kursierten Gerüchte über gefälschte Spesenabrechnungen und Steuerhinterziehung. Irgendwann in dieser Zeit war dann auch der unvermeidliche Rolls-Royce angeschafft worden – in seriösem Schwarz. Ein paar Jahre später, kurz vor ihrem Weggang, kam noch ein zweiter, in Hellblau, dazu. Zum Besitz der Brüder hatte auch eine Jacht gehört. Sie lag in der Nähe von Reading, und einige auserwählte Top-Angestellte hatten das Privileg gehabt, von Zeit zu Zeit ihr Wochenende dort verbringen zu dürfen. Ihr Gehalt war jedes Jahr, manchmal sogar in kürzeren Abständen, erhöht worden, so daß sie, als sie sich vor vier Jahren entschloß zu gehen, genug Geld zusammengespart hatte, um für einige Zeit finanziell unabhängig zu sein. Was sie nun damals genau zu ihrem Entschluß gebracht hatte, konnte sie nicht einmal sagen. Acht Jahre waren einfach eine lange Zeit, und auch der spannendste Job verliert irgendwann einmal an Reiz, ist plötzlich keine Herausforderung mehr. Irgendwann hat man das Gefühl, alles in- und auswendig zu kennen, nicht zuletzt die Kollegen. Was die betraf, da hätte sie manchmal wirklich … ach, egal. Sie war weggegangen, weil sie den starken Wunsch nach Veränderung gehabt hatte. Und sie hatte ihn sich erfüllt. In Oxford hatte sie Französisch und Englisch studiert und durch ihre Verlagstätigkeit gute Deutschkenntnisse erworben. So war sie an eine Gesamtschule im Osten Londons gegangen (eine dieser Mammutschulen – 1000 Schüler!), um dort Deutschunterricht zu geben. Der Schulalltag war erheblich nervenaufreibender gewesen, als sie ihn sich zu Anfang vorgestellt hatte. Sie wollte gar nicht bestreiten, daß jeder ihrer Schüler tief in seinem Innern eine sanfte, verletzliche Seele besaß, das Verhalten in der Gruppe war jedoch ruppig und obszön gewesen, und sie hatte geargwöhnt, daß sich einzelne in der hinteren Reihe dann und wann während der Stunde entblößten. Die größten Schwierigkeiten hatten ihr jedoch die Mädchen bereitet. Sie hatten in ihr, kaum daß sie dagewesen war, die Rivalin gewittert, die die Aufmerksamkeit der Mitschüler und der Lehrer von ihnen ablenken würde. Dabei war ihr Verhältnis zu den Kollegen eher so lala gewesen. Ein paar von ihnen hatten anfangs versucht, sich an sie heranzumachen – meistens ausgerechnet die Verheirateten.
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