Die Toten von Santa Lucia
irgendwo auf der Welt irgendwer vergeblich wartete. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden würden auch ihre Koffer wieder auftauchen, hatte der Flughafenangestellte prophezeit, aber er sollte sich irren. Das Gepäck war und blieb verschwunden. Jahre später hatte Sonja in der Zeitung eine Notiz entdeckt, dass in Madrid eine Bande von Gepäckdieben aufgeflogen war, die mit dem Bodenpersonal gemeinsame Sache machten.
All das stand ihr jetzt wieder lebhaft vor Augen: Luzie, die Tränen über den Verlust der am Strand gefundenen Muscheln vergoss, Oma Hilde, die sich seither standhaft weigerte, ein Flugzeug zu besteigen, sie selbst, die damals geschworen hatte, nur noch mit Handgepäck zu reisen …
Sie musste ein wenig lächeln. Das war auch so einer dieser vielen Seifenblasenvorsätze, die im Nu an der Wirklichkeit zerplatzten. Und wie lange das alles her war. Vierzehn, fünfzehn Jahre. Damals war Luzie so klein gewesen, ein Kind, das noch viele Muscheln suchen und finden sollte. Sonja dachte, dass die Zeit zum Glück die scharfen, verletzenden Kanten der Erlebnisse abschliff, so dass man immer mehr Erinnerungskiesel mit sich herumtrug, runde Steine, Seelenschmeichler. Und sie konnte nur hoffen, dass es sich mit dieser Reise ähnlich verhalten würde. Dass keine Narben zurückblieben, sondern nur die milden Erinnerungen, die man später mit einem Lächeln bedenken konnte.
Aber in diesem Prozess ließ die Gegenwart sich nicht überspringen. Leider. Und Gegenwart hieß vieles: Da war der Riesenstreit mit Luzie und ihr Verschwinden. Da waren die zermürbenden schlaflosen Nächte und die Entscheidung, nach Neapel zu fliegen und nach ihrer Tochter zu suchen, die sich seit über vier Wochen nicht gemeldet hatte. Sonja hatte immer wieder vergeblich versucht, sie per Handy zu erreichen, aber Luzie hatte es entweder ausgeschaltet, oder es war ihr geklaut worden. Da war Neapel, der weiße Fleck in ihrer Erinnerung, der nach Farbe verlangte und sich einfach nicht länger ignorieren ließ. Seit Luzies Verschwinden stolperte Sonja unentwegt über kleine wie große Meldungen in den Zeitungen, in denen die Rede war von den brutalen Machtkämpfen der Camorra-Clans in der Stadt am Vesuv, von den über zweihundert Toten in einem einzigen Jahr. Die Opfer waren zunehmend unschuldige Außenstehende: Ein Verbrecher hatte ein junges Mädchen bei einer Schießerei als Schutzschild benutzt. Einem Jugendlichen auf der Vespa war zum Verhängnis geworden, dass er, vermutlich auf Drängen seiner Eltern, einen Integralhelm getragen hatte und zur falschen Zeit am falschen Ort aufgetaucht war – jemand hatte ihn für den Killer eines verfeindeten Clans gehalten und eiskalt abgeknallt.
Sonja hatte diese Notizen widerwillig, mit wachsender Beklemmung gelesen. Dass sie nicht wusste, wo Luzie steckte, machte sie ganz verrückt vor Sorge. Fast zwanzig Jahre lang war Luzie Sonjas Tochter gewesen und Sonja Luzies Mutter. Und alles war gut. Sie brauchten keine alten Geschichten. Vor allem brauchten sie keine Suche nach einem Vater, der nie einer gewesen war. Ausgerechnet Neapel. Das war wirklich das Allerletzte.
Da musst du durch, sagte eine innere Stimme. Kopf hoch, Augen auf und durch.
Ist alles nur halb so wild, beschwichtigte eine andere Stimme. Neapel sehen und sterben – so schlimm wird’s schon nicht werden, und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Mit einem Ruck kam Bewegung in das Transportband und riss Sonja aus ihren Gedanken. Das Gepäck wurde nacheinander vom Band gepflückt. Ihr Koffer tauchte als einer der letzten auf. Das war immerhin ein Anfang.
2
Als Sonja durch die Sperre ging, stellte sich ihr ein Mann in den Weg. Südländer, aber einen halben Kopf größer als sie. Kaugummi kauend hielt er ihr ein Stück Pappkarton vor die Nase, auf dem ihr Name stand. Nicht zu übersehen: Sonja Zorn.
Sie stutzte, blieb stehen. Da musste ein Irrtum vorliegen.
Er sah sie erwartungsvoll an.
»Si sbaglia«, wehrte sie ihn in bestem Sprachkursitalienisch ab. »Das muss ein Irrtum sein. Ich gehöre zu keiner Reisegruppe.« Sie wollte an ihm vorbei.
Der Mann öffnete mit einem entwaffnenden Lachen die Arme, als wäre die Welt ein großer Witz. Es sah aus, als wollte er Sonja umarmen. Oder sie daran hindern weiterzugehen.
»Benvenuta a Napoli, Signorina Zorn. Ich bin Commissario Gentilini. Gennaro Gentilini.«
Es dauerte einen Moment, bis die Information zu ihr durchgedrungen war. Commissario? Der Mann war von der Polizei? Sie gefror
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