Die Toten von Santa Lucia
gern gefragt worden. Doch ihr Magen meldete sich unüberhörbar mit Gegenprotest.
Sie dachte daran, wie oft sie und Hendrik bis zur Appetitlosigkeit darüber diskutiert hatten, wo man essen gehen solle: beim Inder, beim Thailänder, beim Chinesen, Türken, Spanier, Portugiesen oder doch im neuen Bistro hinter der Oper oder lieber gleich beim Italiener, wo man immer wieder landete, wenn einem partout nichts anderes einfiel? Hendrik arbeitete ein Stockwerk über den Räumen von Sweet Home in der Friss-oder-stirb-Abteilung, wie die Redaktion der Gourmetzeitschrift intern genannt wurde. Natürlich war er immer über neueröffnete Restaurants auf dem Laufenden, aber die Entscheidung hatte er – wie eigentlich alle Entscheidungen – stets Sonja überlassen. Einer der Gründe für ihre Trennung, aber nur einer von vielen. Wenigstens schien dieser Gentilini zur Abwechslung einmal ein entscheidungsfreudiger Mann zu sein.
Nach einer verwirrenden, kurvenreichen Fahrt durch ein Labyrinth enger Gassen hielt der Commissario auf einer kleinen Piazza direkt vor dem Eingang einer namenlosen Trattoria. Ein älterer Mann mit Schirmmütze, der auf einem Küchenstuhl im Schatten gesessen hatte, humpelte auf die Fahrertür zu.
Gentilini stieg aus. Sonja beobachtete, wie er dem Mann etwas in die Hand drückte.
»Grazie, Commissarioprofessò, grazie.«
»Mi raccommando, Pasquale.«
Der Mann tat empört: »Ma professò, dite la verità, è mai successo niente?«
»Niente«, lächelte Gentilini. Er ging ums Auto herum und hielt Sonja die Beifahrertür auf.
Pasquale setzte sich hinters Steuer und fuhr los.
»Und mein Gepäck?«, rief Sonja in einem Anflug von Panik.
Einen Moment lang wurde sie von dem absurden Gedanken gepackt, dass hier alles Lug und Betrug war, der Parkplatzwächter genauso unecht wie der Kommissar. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie einen Roman von Robert Coover gelesen. Darin kehrt Pinocchio als alter, ehrwürdiger Professor in seine Heimatstadt Venedig zurück, und kaum verlässt er den Bahnhof, wird er wie in seiner Jugend nach allen Regeln der Kunst übers Ohr gehauen und von Fuchs und Katze in die Zange genommen … Hatte dieser Parkplatzwächter nicht ein Gesicht wie ein Fuchs? Hatte sie sich Gentilinis Ausweis zeigen lassen? Woher wusste sie, dass das alles nicht ein abgekartetes Spiel war? Und waren sie nicht im Begriff, eine Trattoria zu betreten, die nicht einmal einen Namen zu haben schien, sodass sie sie später niemals wiederfinden würde? Sie kannte sich in Neapel nicht aus und würde nicht einmal erklären können, wie ihr das alles passiert war …
Wie angewurzelt stand sie da, das T-Shirt klebte ihr auf der Haut. Dann spürte sie, wie eine Hand sich auf ihren Arm legte.
»Keine Sorge. Einen besseren Bewacher als Pasquale gibt es in der ganzen Stadt nicht.«
Die Stimme klang sanft und entschieden. Sie tat ihr wohl und vertrieb die lähmenden Gedanken. Kurz darauf begrüßte auch die Wirtin Gentilini unmissverständlich als Commissario.
Auf dem Tisch lagen noch die mit Tomatensauce und Rotwein bekleckerten Papiersets der Vorgänger. Ein unrasierter junger Mann mit deutlichem Ansatz zur Fülligkeit schlurfte heran, knüllte die Sets zusammen und fegte einmal mit dem Geschirrtuch die Krümel von der Tischplatte. Dann teilte er wie Spielkarten neue Sets aus und knallte wortlos vier Wassergläser darauf, die entsprechend robust aussahen. Schließlich baute er sich an der Kopfseite des Tisches auf und fing an, die Speisekarte zu erzählen – jedenfalls klang das, was er in gutturalem neapolitanischem Singsang vortrug, in Sonjas Ohren wie eine Erzählung, eine Erzählung von Essen und Trinken, deren Exposition und Höhepunkte sie leider nicht mitbekam. Sie hörte zwar das eine oder andere Wort heraus, spaghetti zum Beispiel oder pasta oder costoletta, aber das war nun wirklich keine Kunst. Nichts zu machen: ihren Sprachkenntnissen zum Trotz musste sie sich von Commissario Gentilini übersetzen lassen, was ihren Magen erwartete. Der junge Mann mit dem Geschirrtuch blieb die ganze Zeit über am Tisch stehen, ungeladener Zeuge dieser peinlichen Niederlage. Sie bestellte, was Gentilini ihr empfahl: als Primo polpi affogati, als Hauptgang alici fritte.
»Vino bianco?«
Sie nickte. »E un’aqua minerale.« Wie verführerisch einfach. Keine fünfseitige Weinkarte, kein überflüssiger Firlefanz.
Der junge Mann stellte eine Karaffe Wein und eine Flasche Wasser auf den Tisch. Dann brachte er einen
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