Die Toten von Santa Lucia
Sonja und Luzie in einer kleinen Trattoria in der Nähe seiner Wohnung saß. Bei Figli di Totò standen grundsolide, aber auch raffinierte neapolitanische Gerichte auf der Karte; nirgends wurden die alici marinate so schmackhaft zubereitet wie dort, fand der Commissario.
»Franco muss gleich frühmorgens raus gefahren sein in die Villa seiner Eltern«, sagte er, nachdem er den Teller mit einer Scheibe Weißbrot saubergewischt hatte. »Er wusste, dass seine Mutter nicht da war. Und er wusste auch, dass der Gärtner am Sonntag frei hat. Damit war die Bühne frei für Vater und Sohn.«
»Glaubst du, er hatte von Anfang an die Absicht, seinen Vater umzubringen?«, fragte Luzie. Sie war inzwischen mit Gennaro Gentilini per Du und fand sich sprachlich ziemlich passabel zurecht. Im Zweifelsfall zog sie Sonja als lebendes Wörterbuch zu Rate. »Vielleicht wollte er sich nur mit ihm aussprechen. Oder ihm endlich die Meinung sagen. Sich einmal richtig mit ihm streiten.« Sie sah Sonja von der Seite an. »So wie wir beide. Hat uns nicht geschadet, oder?«
»Sich streiten will gekonnt sein«, gab Sonja zurück. »Das haben wir aber auch jahrelang geübt.« Sie schüttelte den Kopf. »In diesem Fall ging es doch um so viel mehr. Sein Vater war immerhin verantwortlich für den Mord an seinem besten Freund.«
»Und er hat seinem Sohn das Leben zerstört«, ergänzte Gentilini. »Den Vater umzubringen war anscheinend der einzige Weg, der Franco Fusco noch offen stand, um reinen Tisch zu machen. Und um sicherzustellen, dass Verbrechen und Niedertracht eben doch nicht ungesühnt bleiben, genau wie sein Vater es sein Leben lang gepredigt hatte. Was wirklich zwischen den beiden passiert ist, werden wir nie erfahren.«
»Ich bin nur froh, dass alles vorbei ist«, sagte Luzie.
Sonja nickte. »Ich auch.«
»Und was hast du jetzt für Pläne?«, erkundigte sich Gentilini.
»Hier bleiben natürlich«, antwortete Luzie, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. »Neapel ist meine zweite Heimat, wie ihr wisst. Ich will die Sprache besser lernen, ich will die Neapolitaner verstehen und mit ihnen reden können. Außerdem bin ich gespannt auf meine neue Familie.«
»Ich habe heute Nachmittag mit Vittorio telefoniert«, sagte Sonja. »Seine Mutter, also Luzies Großmutter, ist völlig aus dem Häuschen und kann es kaum abwarten, bis sie uns endlich kennen lernt. Morgen sind wir alle bei ihr zum Mittagessen eingeladen, am Wochenende kommt sogar extra unseretwegen die Schwester aus Florenz angereist.«
»Unter fünf Stunden essen und palavern kommt ihr da nicht weg«, grinste Gentilini. »Und wann fliegst du zurück nach Hamburg?«
»Der Rückflug ist erst in drei Wochen«, sagte Sonja, ohne ihn anzusehen. »Ich habe unbezahlten Urlaub genommen und werde einen Teufel tun, auch nur einen einzigen Tag früher zurückzufahren, nur um irgendwelche schwachsinnigen Reportagen über exklusive Badezimmerarmaturen in Singlehaushalten zu schreiben. Swarowski-Kristallornamente in Wasserhähnen sind der letzte Schrei.«
»Heißt das etwa, dass es dir in dieser schrecklichen Stadt gefällt?«, fragte Gentilini, und die dunklen Flecken in seinen hellbraunen Augen kamen erneut auf Sonja zugetänzelt. Und wie bei ihrer ersten Begegnung fing Sonja seinen Blick auf – doch diesmal wusste sie, was sie damit anfangen sollte.
Nachbemerkung
Geschichten sind nicht zuletzt ein glücklicher Zufall. Sie entstehen nicht überall und jederzeit. Das Schreiben ist wie ein Streifzug durch fiktive und reale Lebenswelten, man vagabundiert, hört und sieht sich um, hebt Ideen auf, verwirft andere, manches fällt einem unverhofft zu.
Bei meinen Recherchen stieß ich auf den Fall Siani. Der junge neapolitanische Journalist Giancarlo Siani wurde am 23. September 1985 auf offener Straße erschossen, die Ermittlungen verliefen trotz diverser Hinweise im Sande. Erst in den Neunzigerjahren wurde der Camorra-Boss Lorenzo Nuvoletta als Auftraggeber des Mordes verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Geschichte dieses realen Falls wird in dem Roman »L’abusivo« von Antonio Franchini erzählt, ihm verdanke ich Informationen und Anregungen. Die Verbindung zu meinem »Fall Di Napoli« ist jedoch eine rein fiktive: Es war nicht meine Absicht, den Fall Siani tatsachengetreu aufzurollen und literarisch neu zu gestalten. Man suche also nicht nach Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen. Anknüpfungen sind beabsichtigt, aber rein zufällig.
Ohne die Jahre, die
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