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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Krohn
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allmählich in den roten Bereich. Aus dem Augenwinkel stellte sie fest, dass der Dienstwagen zwar eine Klimaanlage hatte, diese aber nicht eingeschaltet war. In Hamburg hatte es in den letzten zwei Wochen fast ununterbrochen geregnet, und Anfang Mai war es noch einmal richtig kalt geworden. Alle in der Redaktion hatten sich so aufgeführt, als könne man die Sonne herbeijammern, unentwegt wurden Reisepläne geschmiedet und wieder verworfen – und nun saß Sonja neben diesem durchaus ansehnlichen neapolitanischen Commissario im Auto, schwitzte und war noch nicht einmal angemessen dankbar.
    Commissario Gentilini wedelte mit der Hand vor den Schaltern auf dem Armaturenbrett herum, als wolle er ihnen gut zureden. Oder ihnen kühlende Luft zufächern. Die Kippschalter schienen es ihm nicht danken zu wollen.
    »Guasto«, sagte er lakonisch. »Kaputt.« Dann lachte er. »Eins der wenigen deutschen Wörter, die ich kenne.« Er fügte hinzu, die Vertragswerkstatt der neapolitanischen Polizei sei leider heillos überlastet. »C’aggia fa’. Da kann man nichts machen.«
    Offenbar waren auch die Straßen überlastet. Oder es gab einfach zu viele Autos. Jedenfalls steckten sie schon seit ein paar Minuten hoffnungslos im Stau. Nichts ging mehr. Der Commissario schaltete den Motor aus.
    »Wie kommt es, dass Sie so gut Italienisch sprechen?«
    »Ich habe es mit der Zeit gelernt.«
    »Aber warum ausgerechnet Italienisch? Haben Sie in Italien Verwandte?«
    Er sagte nicht Verwandte, sondern famiglia. Haben Sie in Italien Familie … Und sofort war Sonja auf der Hut. War das eine unschuldige freundliche Frage, oder wollte er sie aushorchen? Wie schrecklich empfindlich sie doch war, so leicht aus der Fassung zu bringen.
    »Nein«, sagte sie.
    Luzies Vater war kein Verwandter und gehörte nicht zur Familie. Jedenfalls nicht aus Sonjas Sicht. Um sich abzulenken fügte sie hinzu: »Ich habe einfach so damit angefangen, an der Volkshochschule. Ich war damals siebzehn. Es hat mir gefallen. Also habe ich weitergemacht.«
    Ja, aber warum eigentlich? Warum tat man in seinem Leben etwas und etwas anderes nicht? Warum fuhr man an einen Ort und ließ einen anderen links liegen?
    Italienisch zu lernen war eine dieser unbewussten, intuitiven Entscheidungen gewesen, hinter denen sich kein Lebensplan entfaltete wie auf einer riesigen Landkarte mit fest abgesteckten anvisierten Zielen: erst das, dann das, dann das. Alles hätte ebenso gut ganz anders kommen können. Es waren doch letztlich Zufälle, die einen im Leben hierhin oder dorthin führten, wichtig war nur, was man daraus machte. Manche Steine am Wegrand sammelte man auf und passte sie ins Lebensmosaik ein, andere ließ man liegen. Es gab Ideen, die plötzlich vor dem inneren Auge auffunkelten und andere, die man maximal zur Kenntnis nahm, und das war’s. In dem Sprachkurs damals hatte Sonja Maris kennen gelernt, und daraus war eine Freundschaft fürs Leben geworden. Andere Leute, denen sie damals begegnet war, waren schnell wieder im Dickicht des Alltags verschwunden. Wie Antonio …
    Ihr brach der Schweiß aus.
    »Ich habe früher mal versucht, Japanisch zu lernen«, sagte Gentilini. »Ist ziemlich kompliziert.«
    »Und warum ausgerechnet Japanisch?«
    »Damals wollte ich möglichst weit weg aus Neapel und möglichst viel Geld verdienen. Japan erschien mir dafür der passende Ort.« Er lachte leise. »Was für verrückte Ideen man hat, wenn man jung ist.«
    »Was ist daraus geworden?«
    »Wie Sie sehen, bin ich in Neapel geblieben und bei der Polizei gelandet.«
    »Mit Zwischenstation in Japan?«
    Er antwortet nicht, aber sie bemerkte, dass das Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden war. Vielleicht ein versteckter Hinweis, dass auch bei ihm zwischen der verrückten Idee von damals und der nüchternen Gegenwart eine Geschichte von zerplatzten Träumen, pragmatischen Entscheidungen, verletzten Sehnsüchten lauerte. Jeder trug solche Geschichten mit sich herum. Weg aus Neapel? Das hatte sie schon einmal gehört, vor über zwanzig Jahren …
    Dass man den Wunsch hatte, dieser Stadt zu entfliehen, wunderte sie allerdings nicht. Der Blick aus dem Autofenster bot außer viel Blech nur einen räudigen Wurf von im Nichts endenden Betonpfeilern und planlos wuchernden, heruntergekommenen Behausungen, vor denen statt grüner Pflanzen und bunter Blumen rostiges Blech und jede Menge Müll blühten. Sie hielt Ausschau nach dem Vesuv, sah aber nichts als ein Meer aus Autos und ein zweites aus

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