Die Totenfalle
Umrisse, knochig wirkende Totengestalten, als wären einige der hier liegenden Leichen als geisterhafte Projektionen wieder an die Oberfläche gelangt. Ein unheimliches Bild, das nur sie sah, denn allein Tabitha war es vergönnt, einen Blick in die Geisterwelt zu werfen.
Sie wartete.
Die Geister ließen sie nicht in Ruhe. Sie umdrängten sie weiter. Sie krochen herum, sie hatten sich mit dem Nebel vermischt, sie zeigten ihr verzerrte Gesichter, sie umtanzten sie als nebulöse Gestalten, und sie schickten ihr als Botschaft die Kälte entgegen.
Es war die Kälte des Todes…
Tabitha schauderte zusammen. Ihr Körper war noch warm, aber er konnte sich gegen das andere nicht mehr anstemmen. Die Geister drangen ein, sie fanden Lücken, und im Kopf der Frau hörten sie die unheimlichsten Stimmen.
Es gelang ihr nicht mehr, normal sitzen zu bleiben. Zwar blieb sie hocken, aber sie bewegte sich zuckend. Stieß ihre Arme vor, nahm sie wieder zurück, drückte den Kopf nach hinten, öffnete den Mund, als wollte sie anfangen zu schreien, und der Atem drang stoßweise aus ihrem Mund. Vor den Lippen kondensierte er, vermischte sich mit dem Dunst, so daß es aussah, als würde sie, die bald Sterbende, weitere Geister produzieren, um sie mit dem Nebel zu vereinen. Es war einfach schlimm für sie, dies alles zu erleben, aber sie hatte es sich gewünscht. Sie wollte es nicht anders haben, das war der Preis, den sie zahlen mußte. Bisher hatten ihr die Kräfte des Jenseits’ geholfen, nun war es an der Zeit, die Rechnung zu begleichen, denn die berühmteste Geistheilerin Londons bereitete in einer nahezu klassischen Form ihren Abgang vor.
In ihrem Innern war alles anders geworden. Sämtliche Funktionen wichtiger Organe schienen ihren Rhythmus verloren zu haben. Ihr Herz schlug zwar noch, jedoch unregelmäßig. Zwischendurch kam es ihr vor, als würde es aussetzen, dann kriegte sie auch keine Luft mehr. Das Lächeln war von ihren Lippen längst verschwunden. Tabitha hatte mit sich selbst zu tun, die anderen Kräfte waren dabei, sie vollständig zu unterwandern, und genau das hatte sie gewollt, obwohl sie jetzt schon negativ überrascht war.
So schlimm hatte sie sich ihr Sterben nicht vorgestellt. Längst war die Kälte des Steins vergessen. Sie hockte noch auf ihm, aber sie hatte ihren Körper nach vorn gebeugt, den Mund geöffnet, und ihr Atem pfiff gegen den wabernden Dunst, der wie eine Decke war. Der Dunst hing zwischen dem Geäst der Bäume, er umgab sie wie eine schützende Mauer, und wenn sie den Kopf hob, dann sah sie in ihm die tanzenden Gestalten.
In ihrem Innern wurde das Leben aufgezehrt. Sie fressen meine Seele, sie wollen mich ganz, sie wollen mich ganz… ganz… Diese Gedanken zuckten durch ihren Kopf. Nie hätte sie sich das Sterben so schwer vorgestellt. Ihr Gesicht war verzerrt, um Jahre gealtert, als gehörte es einer Greisin.
Dann brach es aus ihrem Mund hervor. In einem hohen Bogen schoß eine gelblichweiße, mit Blut vermischte Flüssigkeit durch die Luft. Es war ihre Seele, die nicht mehr wollte, und mit einer letzten Kraftanstrengung stemmte sich die Frau in die Höhe. Dabei hatte sie den Eindruck, in eine fremde Welt zu treten. Plötzlich sah sie nichts mehr, was sonst in ihrer Nähe gewesen wäre.
Die Welt hatte sich verändert, sie bestand nur mehr aus zuckenden, tanzenden Formen, aus Dingen, die Tabitha nie zuvor gesehen hatte. War das bereits das Jenseits?
Sie konnte es sich gut vorstellen, aber es war nicht das Jenseits, daß sich die Menschen wünschten. Es war ihr Teil dieser Welt. Ein Part, wo die Geister lebten, mit denen sie so intensiv zusammengearbeitet hatte. Noch einmal raffte sich Tabitha auf. Sie schleuderte ihre Arme in die Höhe. Die Hände bewegten sich zuckend, als könnten sie irgendwo Halt finden, aber sie griff nur ins Leere hinein, denn kein Geist wollte sie auffangen.
Sie rutschte aus. Dabei bewegte sie sich grotesk. Sie schleuderte ihren Körper noch nach vorn, all den Geistern entgegen, die sie jedoch nicht auffingen. Sie fiel hin.
Der schwere Aufprall schüttelte sie durch. Ihre Hände zuckten, die Finger krallten sich in den feuchten Boden. Über ihr lagen die Dunstschleier mit den fratzenhaften Gesichtern der Besucher aus einer anderen Welt.
Die Geister stürmten auf sie ein. Tabitha Leroi hörte Musik, sie vernahm Stimmen. In ihrem Kopf drehte sich ein gewaltiges Karussell, während sie selbst auf dem Boden liegenblieb und miterleben mußte, daß man ihr keine Chance
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