Die Totenfalle
Tabitha Leroi wußte, daß sie sterben mußte, und sie hatte sich dafür einen besonderen Ort ausgesucht. Es war genau der Friedhof, auf dem sie auch bestattet werden würde.
Sie bereitete alles sehr gut vor. Ihre geräumige Wohnung im Erdgeschoß des Hauses schloß sie nicht mal ab. Wenn die Klienten und die Ratsuchenden erschienen, würden sie schon wissen, was mit ihr geschehen war, und sie würden auch den entsprechenden Weg finden, um ihr immer wieder die Ehre eines Besuchs zu erweisen. Bei diesem Gedanken umspielte ein Lächeln ihr Gesicht. Sie hatte nicht mal einen Koffer mit auf die Reise genommen, dafür trug sie einen gefütterten Staubmantel, der auch die winterliche Kälte abhielt. Um das Haar hatte sie ein wollenes Tuch gebunden. Es verdeckte die dunkle Flut mit den grauen Strähnen, die Tabitha ein interessantes und beinahe altersloses Aussehen gab.
Das Taxi wartete vor dem Grundstück. Der Fahrer schaute aus seiner Illustrierten hoch, als der Schatten der Frau an der hinteren Tür erschien. Tabitha öffnete den Wagenschlag und tauchte in das alte Londoner Gefährt, in dem der Fahrer der große Herrscher war. Die Frau war froh, einen älteren Chauffeur erwischt zu haben, die jüngeren waren oft zu frech. Auf ihre Bemerkungen konnte sie verzichten. Sie gab ihr Ziel an, und der Mann hinter dem Lenkrad nickte nur. Für ihn war es wohl nicht ungewöhnlich, daß sich jemand zu einem Friedhof fahren ließ.
Als der Wagen anfuhr, schaute Tabitha noch einmal zurück. Durch die Lücken im winterlichen Gesträuch konnte sie einen Blick auf das große Haus werfen. Sie empfand nicht einmal Bedauern, denn sie wußte, daß es kein Abschied für immer sein würde. Die Menschen starben, ihr Körper verging, aber es gab andere Kräfte, die alles wieder ausglichen. Bei diesem Gedanken lächelte sie versonnen. Sie hatte noch die vollen Lippen eines jungen Mädchens, und auch ihr Gesicht war so gut wie faltenlos.
Die Stadt London zeigte sich nicht eben von der besten Seite. Sie hatte ihr Dunstkleid übergestreift, das sich in Themsenähe zu Nebel verdichtet hatte.
Tabitha hatte einen schweren Entschluß gefaßt. Fast schien es so, als freute sie sich auf den Tod, denn auf ihren Mund hatte sich ein Lächeln gelegt. Ihr Kopf bewegte sich wie der eines Touristen, der sich durch London fahren ließ und diese Stadt zum erstenmal erlebt, wobei er möglichst viel von ihr sehen wollte.
Der Fahrer meldete sich. »Soll ich auf Sie warten, wenn ich Sie am Friedhof abgesetzt habe?«
»Nein, das ist nicht nötig. Warum?«
»Das Gelände liegt ziemlich einsam, da werden Sie so leicht keinen zweiten Wagen bekommen, wenn Sie zurückkehren.«
»Danke für den Tip, doch was ich zu erledigen habe, dauert länger.«
»Dann ist es gut.«
Es dauerte sogar sehr lange, dachte Tabitha. Dabei ist die Zeit dann ausgeschaltet worden. Sie räusperte sich und strich mit einer müden Bewegung über ihr Kopftuch. Der Stoff fühlte sich so herrlich weich an. Es war feinstes Kaschmir, sie liebte das Tuch, und zahlreiche ihrer Klientinnen kannten es auch.
Tabitha hatte es oft als Seelentuch bezeichnet, als Verbindung zwischen zwei Welten oder zwei Extremen, und es war keinem eingefallen, jemals darüber zu lächeln.
Sie mußten in den Südwesten von London, wo die Themse nach ihrer großen Schleife wieder ihren Bogen nach Norden machte und die großen Wasserwerke lagen. In unmittelbarer Nähe befand sich der Ortsteil Hammersmith, zu dessen Friedhof sie sich fahren ließ. Vergangenheit und Gegenwart waren dort eine Symbiose eingegangen. Über die breite Talgarth Road erreichten sie ihr Ziel. An der U-Bahn-Haltestelle Barons Court Station mußten sie nach links ab in die Palliser Road und waren damit in direkter Nähe des Friedhofs, der an der linken Seite wie ein großer, winterlich grau gewordener Park lag.
»Wo soll ich halten, Madam?«
»Fahren Sie bitte an die Schmalseite.« Der Fahrer kannte sich aus. »Ah, Sie wollen den alten Teil des Friedhofs besuchen.«
»Sehr richtig.«
»Er ist auch der bessere.«
»Sie kennen ihn?«
»Mein Großvater liegt dort begraben. Als Kind bin ich mit meinen Eltern oft an seinem Grab gewesen, doch da habe ich immer Angst bekommen. Mir lief es jedesmal kalt den Rücken runter!«
»Warum?«
»Das kann ich Ihnen sagen. Friedhöfe machen mir einfach Angst. Ich habe immer das Gefühl, daß sich jeden Augenblick die Gräber öffnen und die Toten herausklettern. Das mag aber daher kommen«, er lachte jetzt
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