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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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hatte.
    »Hmmm«, sagte sie.
    Simon stürzte sich darauf wie ein Raubvogel. »Kann ihm geholfen werden? Himmel, wenn er geheilt würde, wäre das für unsere Mission von unschätzbarem Vorteil. Das ist ein Mann von Einfluss.«
    Sein Einfluss war ihr völlig egal. Adelia sah nur das leidende Geschöpf in ihm, das weiter leiden würde, bis es vom eigenen Urin vergiftet wurde, falls nichts geschah. Aber was, wenn sie mit ihrer Diagnose irrte? Es gab noch andere Erklärungen für die Unfähigkeit, Wasser zu lassen. Was, wenn sie einen Fehler machte?
    »Hmmm«, sagte sie erneut, aber ihr Tonfall hatte sich verändert.
    »Riskant?« Auch Simons Haltung hatte sich verändert. »Könnte er sterben? Wir müssen uns genau überlegen …«
    Sie hörte gar nicht hin. Fast hätte sie sich umgedreht und den Mund geöffnet, um Margaret nach ihrer Meinung zu fragen, doch da überwältigte sie eine trostlose Einsamkeit. Der Raum, den die füllige Gestalt ihrer Amme eingenommen hatte, war leer und würde leer bleiben; Margaret war in Ouistreham gestorben.
    Und mit der Trauer kam das Schuldgefühl. Margaret hätte die weite Reise von Salerno niemals antreten dürfen, aber sie hatte darauf bestanden. Und Adelia, die sich nichts lieber wünschte und allein schon aus Gründen der Schicklichkeit eine weibliche Begleitung brauchte, hatte eingewilligt, da ihr davor graute, eine andere Frau als ihre gute alte Amme mitzunehmen. Zu strapaziös; fast tausend Meilen auf See, über den Golf von Biskaya, der sich von seiner schlimmsten Seite zeigte, es war zu anstrengend für die alte Frau gewesen. Ein Schlaganfall. Die Liebe, die Adelia fünfundzwanzig Jahre lang genährt hatte, war in ein Grab auf einem winzigen Friedhof am Ufer der Orne gesunken, und sie hatte die Überfahrt nach England allein durchstehen müssen, eine Ruth zwischen fremden Ähren. Was hätte diese gute Seele dazu gesagt?
    »Ich weiß überhaupt nich, wieso du das fragen tust, du hörst doch sowieso nie auf andere. Du wirst versuchen, dem armenHerrn zu helfen, ich kenn dich doch, Lämmchen, also kümmer dich nich um meine Meinung, tust du ja sonst auch nich
.
«
    Tat ich ja sonst auch nicht.
    Adelias Mund wurde weich, als ihr die altvertraute Stimme mit dem Devonshire-Akzent wieder in den Ohren klang. Margaret war für sie immer eine geduldige Zuhörerin gewesen. Und ihr Trost.
    »Vielleicht sollten wir’s lassen«, sagte Simon.
    »Der Mann stirbt«, sagte sie. Sie wusste genauso gut wie Simon, welche Gefahr ihnen drohte, falls die Operation fehlschlug. Seit sie in dieses unbekannte Land gekommen waren, hatte sie fast nur Trostlosigkeit empfunden, und seine Fremdartigkeit ließ selbst heitere Reisebegleiter irgendwie feindselig erscheinen. Nun jedoch spielte die mögliche Gefahr ebenso wenig eine Rolle wie der mögliche Nutzen, den sie daraus ziehen könnten, falls der Prior geheilt wurde. Sie war Ärztin. Der Mann war todkrank. Sie hatte keine Wahl.
    Sie schaute sich um. Die Straße, vermutlich römisch, verlief so gerade wie ein ausgestreckter Finger. Im Westen, links von ihr, lag flaches Land – dort begannen die Sümpfe von Cambridgeshire –, und dunkle Wiesen und Feuchtland erstreckten sich bis zu einem schnurgeraden rotgoldenen Sonnenuntergang. Rechter Hand war ein bewaldeter, nicht sehr hoher Berg, und den Hang hinauf führte eine befahrbare Schneise. Nirgendwo eine Behausung, kein Hof, kein Haus, keine Schäferhütte.
    Ihre Augen verweilten auf einem Graben, fast schon ein Kanal, der zwischen der Straße und dem Hügelzug verlief. Sie hatte schon vor einer ganzen Weile bemerkt, was er enthielt, so wie sie stets alle Gaben der Natur bemerkte.
    Sie würden Ungestörtheit brauchen. Und Licht. Und etwas aus dem Graben. Sie erteilte ihre Anweisungen.
    Die drei Mönche kamen näher, stützten den schmerzgeplagtenPrior. Neben ihnen trabte ein protestierender Roger aus Acton, der noch immer empfahl, die Reliquie zur Behandlung zu nutzen. Der älteste Mönch sprach Mansur und Simon an: »Bruder Ninian sagt, Ihr seid Ärzte aus Salerno.« Mit seinem Gesicht und der Nase hätte der Mann Steine anspitzen können.
    Simon sah zu Mansur hinüber, über Adelias Kopf hinweg, die zwischen ihnen stand, und antwortete wahrheitsgemäß: »Wir können Euch den Einsatz umfassenden medizinischen Wissens versprechen.«
    »Könnt Ihr mir helfen?« Der Prior brüllte Simon die Frage förmlich entgegen.
    Simon spürte einen Rippenstoß. Mutig sagte er: »Ja.«
    Trotzdem war Bruder Gilbert noch

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