Die Totenleserin1
Simon, wenn Ihr seine Kutte anheben würdet …«
Ein schrill klingender Prior Geoffrey fragte: »Was macht sie da unten? Was hat sie da in der Hand?«
Dann der Mann, der als Master Simon angesprochen worden war: »Lehnt Euch zurück, Mylord. Schließt die Augen. Seid versichert, dass die Lady genau weiß, was sie tut.«
Und der Prior in Panik: »Ich aber nicht. Ich bin einer Hexe in die Hände gefallen. Gott sei mir gnädig, dieses Weib wird mir die Seele durch meinen Schniedel aus dem Leib saugen.«
Dann wieder die helle Stimme, strenger, konzentriert: »Haltet still, zum Donnerwetter. Wollt Ihr, dass Eure Blase platzt? Haltetden Penis hoch, Master Simon.
Hoch
, ich brauche einen glatten Durchgang.«
Der Prior gab ein Quieken von sich.
»Die Schüssel, Simon. Schnell, die Schüssel. Haltet sie dahin,
dahin
.
«
Und dann ein Geräusch, als rauschte ein Wasserfall in ein Becken, und ein wohliges Stöhnen, wie es ein Mann beim Liebesakt ausstößt oder wenn seine prall gefüllte Blase von ihrem quälenden Inhalt erleichtert wird.
Oberhalb der Bergterrasse riss der Steuereintreiber des Königs die Augen weit auf, schürzte die Lippen zu einem interessierten Spitzmund, nickte vor sich hin und machte sich wieder an den Abstieg.
Er hätte gerne gewusst, ob auch die Ritter mitbekommen hatten, was er mitbekommen hatte. Wahrscheinlich nicht, dachte er. Sie waren fast außer Hörweite des Wagens, und die Kappe, die sie unter dem Eisenhelm trugen, dämpfte alle Geräusche. Abgesehen von den Insassen des Wagens und von dem Araber war er somit der Einzige, der über dieses hochinteressante Wissen verfügte.
Auf dem Rückweg musste er sich mehrmals im Dunkeln wegducken. Es war erstaunlich, wie viele Pilger in dieser Nacht trotz der Finsternis auf dem Hang unterwegs waren.
Er sah Bruder Gilbert, der vermutlich herausfinden wollte, was in dem Wagen vor sich ging. Er sah Hugh, den Jäger der Priorin, der entweder dieselbe Absicht hatte oder vielleicht auch nur einer Tierfährte folgte, so wie es sich für einen Jäger gehörte. Und war die undeutliche Gestalt, die da zwischen den Bäumen hindurchschlüpfte, eine Frau? Die Frau des Händlers, die ein menschliches Bedürfnis verspürte? Eine Nonne mit dem selben Anliegen? Oder ein Mönch?
Er konnte es nicht sagen.
Kapitel Drei
A ls das Morgenlicht auf die Pilger am Straßenrand fiel, waren sie durchgefroren und gereizt. Ungehalten fauchte die Priorin ihren Ritter an, als er zu ihr kam und fragte, ob sie gut geschlafen habe. »Wo wart Ihr, Sir Joscelin?«
»Ich habe den Prior beschützt, Madam. Er befand sich in den Händen von Fremdlingen und hätte vielleicht Hilfe brauchen können.«
Die Priorin interessierte das nicht. »Er wollte es so. Ich hätte gestern Abend noch weiterreisen können, wenn Ihr zu unserem Schutz da gewesen wärt. Bis Cambridge sind es nur noch vier Meilen. Der Kleine St. Peter wartet auf dieses Reliquiar, das seine Knochen beherbergen wird, und er hat lange genug gewartet.«
»Ihr hättet die Knochen mitnehmen sollen, Madam.«
Die Reise der Priorin nach Canterbury war nicht nur eine fromme Pilgerfahrt gewesen, sondern hatte auch den Zweck gehabt, das Reliquiar abzuholen, das ein Jahr zuvor bei den Goldschmieden von St. Thomas à Becket bestellt worden war. Wenn die Gebeine des neuen Heiligen ihres Klosters, die derzeit noch in Cambridge in einer schlichten Kiste ruhten, erst einmal darin bestattet waren, erhoffte sie sich Großes davon.
»Ich habe seinen heiligen Fingerknochen mitgenommen«, zisch te sie, »und wenn Prior Geoffrey so gläubig wäre, wie er sein sollte, hätte das genügt, um ihn zu heilen.«
»Dennoch, Mutter, wir konnten den Prior in seiner misslichenLage doch nicht einfach Fremden überlassen, oder?«, fragte die kleine Nonne sanft.
Die Priorin hätte es ohne Bedenken gekonnt. Prior Geoffrey war ihr ebenso zuwider wie sie ihm. »Er hat doch seinen eigenen Ritter, oder etwa nicht?«
»Um die ganze Nacht Wache zu stehen, muss man zu zweit sein«, sagte Sir Gervase. »Damit einer wachen und einer schlafen kann.« Er war gereizt. Ja, beide Ritter hatten rot geränderte Augen, als hätte keiner von ihnen ausreichend Ruhe gefunden.
»Habe ich etwa schlafen können? Bei der Unruhe hier, durch das ständige Kommen und Gehen von Leuten. Und wieso verlangt er überhaupt eine doppelte Wache?«
Die Missstimmung zwischen dem Kloster St. Radegund und dem Stift St. Augustine in Barnwell war zu einem erheblichen Teil darauf
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