Die Traene des Drachen
mit seinem eigenen Schmerz über den wahrscheinlich endgültigen Abschied von Elea auseinander. Breanna rief unter Tränen: „Lasst sie doch erst zu sich kommen, damit wir uns voneinander verabschieden können?“ Jadora, der gerade auf sein Pferd steigen wollte, versuchte, sie zu beruhigen: „Glaubt mir, Frau, so ist es leichter für alle!“
Maél setzte das bewusstlose Mädchen vor Jadora auf den Sattel. Dieser bettete sie bequem an seine Brust. Daraufhin setzte sich der neunköpfige Trupp auch schon in Bewegung. Keiner der Reiter drehte sich nach der trauernden Familie um. Die fünf Menschen standen noch lange an der Stelle, an der sie Elea zum Abschied nicht einmal in die Arme nehmen oder ihr tröstende Worte spenden durften. Sie gingen erst wieder zurück ins Haus, als ihre geliebte Tochter und Schwester am Horizont nicht mehr zu erkennen war.
Teil II - Die Reise nach Moray
Kapitel 1
Nebelschwaden zogen über die Stadt Moray, sodass diese vor König Roghans in die Ferne schweifenden Blick zum Teil verborgen blieb. Von seinem Schloss aus, das auf einem Berg über der königlichen Hauptstadt schon vor etwa fünfhundert Jahren von seinen Vorfahren errichtet wurde, hatte der Herrscher über Moraya freie Sicht auf einen strahlend blauen Himmel. Zwei Adler zogen ihre Kreise über das Schloss. Sie waren Roghan so nah, dass er glaubte, das Gelb ihrer Augen erkennen zu können. Im Norden streckte sich der Akrachón, eine gigantisch hohe Gebirgskette, den Horizont entlang. Sie bildete eine naturgegebene Barriere im Norden der beiden Königreiche Moraya und Boraya. Roghan liebte den Anblick der steilen, felsigen Berge mit ihren schneebedeckten Gipfeln, auch wenn ihre Unbezwingbarkeit ihm immer ein Dorn im Auge war.
Stolz sah er hinunter auf sein Schloss, das bereits sein Ururgroßvater nach dem verheerenden Krieg gegen den dunklen Zauberer Feringhor wiederaufzubauen begonnen hatte. Er selbst hatte – in einem wieder zu Kräften gekommenen Land – den Wiederaufbau abgeschlossen. Aus dem einstigen Schloss, das in früheren Zeiten idyllisch über der Hauptstadt ruhte, war eine gewaltige Festung geworden.
Vom Akrachón wehte der Nordwind mit einer Stärke, die die auf den Wehrtürmen befestigten Fahnen zum lautstarken Flattern brachte und den schwarzen Stoff mit dem königlichen Wappen, einem roten Drachen, entfaltete.
Roghan verließ das Fenster seines Arbeitszimmers, das sich in einem der zwei hohen Türme befand, und blieb an seinem massigen Schreibtisch stehen. Er war eine zugleich imposante und befremdliche Erscheinung. Seine große und kräftige Statur stand in krassem Gegensatz zu seinen feinen, jungenhaften Gesichtszügen. Er trug nicht nur keinen Bart, was zu jener Zeit für einen König ungewöhnlich war, sondern er verzichtete auch auf langes Haar, was die Jugendlichkeit seiner Züge nur noch unterstrich. Allein die ergrauten Schläfen seines hellbraunen Haars waren ein Hinweis darauf, dass er ein Mann mittleren Alters war. Ungeduldig tippte er mit den Fingern auf den goldenen Intarsien der Tischplatte entlang. Wo bleibt nur Darrach? Ich habe schon vor über einer Stunde nach ihm schicken lassen? Er ließ sich auf dem wuchtigen Ledersessel vor seinem Schreibtisch nieder, der unter seinem nicht unbedeutenden Gewicht ein lautes Knarren von sich gab.
Er rollte gerade eine Landkarte auf, als es an der Tür klopfte. „Ja, komm schon rein, Darrach!“, brummte er ungeduldig. Ein mindestens ebenso eindrucksvoller Mann wie der König – wenn auch auf eine ganz andere Art - trat ein. Er war noch größer als Roghan, aber viel schlanker. Sein Haar war lang und schlohweiß. Er trug ein langes, hellbraunes Gewand, um das er einen schwarzen Ledergürtel geschnallt hatte. Daran hing ein Ring mit einer ganzen Reihe von Schlüsseln. Was allerdings am meisten auffiel, waren seine ungewöhnlich blauen Augen in einem Gesicht, dessen Alter sich nicht bestimmen ließ.
Darrach verbeugte sich wie immer respektvoll vor dem König, obwohl Roghan ihn schon längst hatte wissen lassen, dass er dies als sein engster Vertrauter nicht tun müsse, schon gar nicht, wenn sie unter sich waren. Er setzte sich dem König gegenüber. „Seit mehr als zwei Wochen habe ich dich nicht zu Gesicht bekommen. Ich hoffe, dass dein unermüdliches Arbeiten an den Schriftrollen mit Erfolg gekrönt ist, Darrach.“
„ Im Augenblick komme ich nicht weiter. Der Gelehrte, der vor Hunderten von Jahren diese Pergamentrollen beschrieben
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