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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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so. Der Beistand des Herrn ist immer von Vorteil.« Der Krämer bekreuzigte sich und verschwand um die Straßenecke.
    Wendel musste lächeln. Warum sorgte er sich nur immerzu? Es ging ihm gut in Rottweil, die Menschen waren umgänglich, die Geschäfte florierten. Innerhalb kürzester Zeit hatten Melissa und er ihren Weinhandel zum Blühen gebracht. Ohne Melissas Vermögen wäre das nicht möglich gewesen. Am Tag ihrer Vermählung hatte sie ihm einen Beutel Goldmünzen gegeben und gesagt, er solle damit ihre Zukunft aufbauen, aber nicht fragen, woher das Geld stamme. Sie hatte ihm versichert, dass es ehrlich erworben sei, und Wendel hatte nicht an ihren Worten gezweifelt. Manchmal allerdings überkam ihn dennoch ein seltsames Gefühl – er wusste so wenig über seine Frau. Aus Augsburg stammte sie; ihr Zwillingsbruder Merten war Schreiber und für kurze Zeit sein Freund gewesen, aber seit zwei Jahren spurlos verschwunden. Niemand sonst aus der Familie lebte noch. Das zumindest hatte sie ihm erzählt. Immer wenn er Melissa Fragen stellte – zu ihrem Bruder, ihren Eltern oder ihrer Heimatstadt, wich sie ihm aus, küsste ihn leidenschaftlich und sagte, dass die Vergangenheit nicht zähle und sie erst angefangen habe zu leben, als sie ihn getroffen habe. Das ließ ihn gewöhnlich verstummen. Warum sollte er auch auf Antworten beharren, die er möglicherweise gar nicht hören wollte? Er war schließlich kein neugieriges Klatschweib. Auch ihm war Schreckliches widerfahren, über das er nicht sprach, mit niemandem. Hatte Melissa dann nicht ebenso das Recht, ihre finstersten Geheimnisse für sich zu behalten? Er wusste über seine Gemahlin, was er wissen musste. Also zügelte er seine Neugier und schalt sich einen Narren, über solch unwichtige Dinge nachzudenken, anstatt jeden einzelnen Augenblick mit ihr zu genießen.
    Viel schlimmer war, dass sein starrköpfiger Vater ihm bis heute nicht verziehen hatte, dass er die Verlobung mit der wunderschönen Engellin aufgelöst hatte. Nicht einmal die Geburt seines ersten Enkelkindes hatte ihn versöhnen können. In den Augen seines Vaters hatte Wendel sein Eheversprechen nicht eingehalten und damit den Namen Füger in den Schmutz gezogen, die Familie entehrt. Das war die größte Schande, die Erhard Füger sich denken konnte. Unverzeihbar. Wendel schloss die Augen. Zwei lange Jahre hatte er kein Wort mit seinem Vater gewechselt. Eine Ewigkeit.
    Die Glocken der Kapellenkirche rissen ihn aus den trüben Gedanken. Der Zug stand vor den Toren. Endlich! Die Menschen strömten aus den Häusern, um die Händler zu begrüßen und sie in einem Triumphzug in die Stadt zu geleiten. Auch das unterschied Rottweil von Reutlingen: Die Hauptstraße war zwischen dreißig und fünfzig Fuß breit, vier Wagen konnten ohne sich zu berühren nebeneinander fahren, sodass der gesamte Zug mühelos innerhalb der Mauern Schutz finden würde. Das war der Grund, warum viele einen kleinen Umweg über Rottweil in Kauf nahmen. Zumindest über Nacht waren die Händler und ihr kostbares Gut sicher vor Raub und Mord. Morgen würde ein Teil des Zuges gen Urach weiterziehen, ein anderer nach Esslingen und ein weiterer nach Reutlingen.
    Sehnsüchtig blickte Wendel auf die ersten Wagen. Dann wandte er sich um und rief durch die offene Tür: »Melissa! Komm rasch, sie sind da!«
***
    Eberhard von Säckingen war froh, dass seine Nächte mit Othilia bisher folgenlos geblieben waren – auch wenn er nicht begriff, wie das möglich war. Bestimmt kannte die Gräfin Mittel, um die Empfängnis zu verhindern, anders konnte er es sich nicht erklären. An mangelnder Gelegenheit lag es jedenfalls nicht: Othilias Lust war unstillbar, und seine Leisten schmerzten schon. Bald würde sie ihn rufen, die Sonne stand bereits tief über dem Horizont und tauchte die Adlerburg in ein rötliches Licht. Auf der Burg traute sich niemand, ihn oder die Herrin zu tadeln. Draußen im Lande jedoch waren sie nicht nur zum Gespräch geworden, nein, es kursierte sogar ein Spottlied, das Richard von Alsenbrunn verfasst hatte. Von Säckingen hatte es unlängst selbst zu Ohren bekommen:
    Hoch auf der Burg, da sah ich
    Eine Krähe ihre Kreise ziehen und nicht den Adler.
    Wo er wohl seine Beute schlägt?
    Der Horst bleibt unbewacht,
    Der Kuckuck ruft in jeder Nacht.
    Welch Brut er wohl bringen mag?
    Ausgerechnet Alsenbrunn, einer der angesehensten Minnesänger des Reiches, hatte sich ihrer angenommen. Seine spitze Zunge stach von Säckingen ständig ins

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