Die Tränen der Henkerin
P ROLOG
O KTOBER 1330
Der Winter würde lang und streng werden. Das spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers. Der Sommer war heiß gewesen, sie hatte kaum etwas zu fressen gefunden, beide Jungen verloren. Sie hatte das Revier gewechselt, sich mit einer anderen Bärin eingelassen. Lange hatten sie miteinander gekämpft, bis die andere schließlich geflohen war. Sie hatte gesiegt, aber der Preis war hoch gewesen: Ihre Nase war angeschwollen und blutete. Die rechte vordere Tatze schmerzte bei jedem Schritt, und das Atmen fiel ihr schwer. Es fühlte sich an, als stecke etwas in ihrer Seite, das ihr ständig ins Fleisch biss.
Überall lauerten Feinde und Gefahren, sie musste aufmerksam sein und immer bereit, ihre Gegner anzugreifen. Sie nahm es mit jedem auf, nur diesen Zweibeinern, den Menschen, ging sie aus dem Weg, denn die bedeuteten meist den sicheren Tod. Selbst das Männchen, das die Bärin im letzten Jahr gewählt hatte, ein stattlicher Bursche, fast eineinhalb Mal so schwer wie sie selbst, hatte es vermieden, Menschen über den Weg zu laufen. Es hatte ihm nichts genutzt. Mit Hunden hatten sie ihn gehetzt und vor seiner Winterhöhle gestellt, ihn getötet und zerfleischt. Sie war geflohen, die Hunde waren ihr nicht gefolgt.
Sie hob den Kopf, stellte sich auf die Hinterbeine und witterte. Ein süßlicher Geruch wehte ihr um die Nase. Ein totes Tier, frisches Blut. Vielleicht einen halben Tagesmarsch entfernt. Sie trottete los, trank an einem Bach, hielt immer wieder inne, um zu lauschen und zu schnuppern. Wildschweine kreuzten ihren Weg, Rehe stoben vorüber. Sie fraß ein paar vertrocknete Beeren, aber ihr Magen knurrte und knurrte.
Der Geruch wurde stärker, sie rannte los, fühlte nichts mehr außer ihrem Hunger. Am Waldsaum blieb sie einen Moment stehen, ein widerwärtiger Gestank mischte sich unter den süßen: Wölfe. Sie waren auf derselben Fährte. Die Bärin musste sich beeilen. Wenn ihr ein Rudel Wölfe zuvorkam, hatte sie das Nachsehen.
Endlich erreichte sie ihre Beute. Als sie sah, um was für ein Tier es sich handelte, schrak sie zurück. Es war ein Mensch. Er bewegte sich nicht, aber das musste nichts heißen. Menschen waren verschlagen.
Die Wölfe hielten ebenfalls Abstand, warteten wohl ab, was sie tat.
Die Bärin sah sich noch einmal um, dann überwältigte sie der Hunger. Mit einem Satz sprang sie auf den Brustkorb des Menschen, der unter ihrem Gewicht zerbrach wie morsches Holz. Nichts geschah. Sie schlug ihre Zähne in den Hals, biss zu, ließ los und witterte erneut. Die Wölfe kamen näher. Sie hatten einen schlechten Tag gewählt, um sich mit ihr anzulegen. Sie stellte sich auf und brüllte so laut, dass ihre Feinde wie versteinert stehen blieben. Einer traute sich heran, sie preschte vor und ließ ihre gesunde Pranke auf ihn niederfahren, sodass er mit gebrochenem Rückgrat umfiel. Die anderen Wölfe heulten auf und verzogen sich. Noch einmal brüllte sie aus vollem Hals, dann beugte sie sich über den toten Menschen, riss ihm den Bauch auf und fraß sich satt.
Auf dem Weg hierher hatte die Bärin eine gute Höhle gesehen, gerade groß genug für sich selbst, zwei Junge und die Beute, die sie für ein paar Tage sattmachen würde. Sie hatte es sich abgewöhnt, große Stücke vor der Höhle zu vergraben, so wie die anderen es taten. Zu oft war das Versteck ausgeräumt worden, wenn sie nicht darauf aufpassen konnte. Das sollte ihr nicht mehr passieren. Sie packte den Menschen an der Schulter, zog und zerrte, musste mehrfach ausruhen, bis sie endlich an der Höhle angekommen war. Sie stopfte ihn ganz nach hinten, fraß noch ein wenig an den Beinen, die lange nicht so gut schmeckten wie die Därme oder die Leber. Der Tag und die Schmerzen hatten sie erschöpft, also legte sie sich hin und schlief.
Schon wenige Wochen später brach Frost über das Land herein, der erste Schnee fiel vom Himmel, und bis zum Februar taute es nicht mehr. Die Bärin blieb in der Höhle und hielt Winterruhe. Ihre Verletzungen heilten. Zurück blieb nur eine Narbe, die von einer Augenbraue über die Nase bis zum Hals verlief.
D IE
B EDROHUNG
A UGUST 1332
»Fahr zur Hölle, Melisande Wilhelmis!« Ottmar de Bruce hob sein Schwert und schlug Melisande die Waffe aus der Hand.
Sie blickte sich verwundert um. »Aber Ihr seid tot, Graf! So tot wie meine Familie, die Ihr hingemetzelt habt in Eurem Blutrausch.«
De Bruce lachte schallend. »Ich werde niemals tot sein, ich werde Euch immer verfolgen, und ich
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