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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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etwas wie einen Vorwurf zu erkennen, aber ihre feste Stimme belehrte mich eines Besseren:
    »Man erinnert sich, Monsieur, man erinnert sich.«
    Dann blickte sie hinaus aufs Meer. Und wieder so in Gedanken versunken, als wäre ich nicht mehr vorhanden; sie sah so unverwandt in die Ferne, wie ich auf ein unbeschriebenes Blatt Papier, und erging sich ganz in ihren Träumereien.
    Woran erinnerte sie sich? Nichts unter diesem Dach verriet etwas von ihrer Vergangenheit, alles gehörte früheren Generationen an: Bücher, Möbel, Bilder. Ich hatte den Eindruck, dass sie, wie eine Elster, mit einem gestohlenen Schatz hierhergekommen war, ihn abgeladen und sich damit begnügt hatte, Vorhänge und Wandbespannungen zu erneuern.
    Wieder auf meiner Etage, fragte ich ihre Nichte:
    »Gerda, Ihre Tante hat mir verraten, dass sie ihre Tage damit verbringt, sich die Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Was, glauben Sie, ruft sie sich ins Gedächtnis?«
    »Keine Ahnung. Sie hat nie gearbeitet. Sie ist eine alte Jungfer.«
    »Sind Sie sich da so sicher?«
    »Darauf kannst du Gift nehmen. Tante Emma und ein Mann? Die Ärmste, nie im Leben. Das wissen alle in der Familie. Bei dem Wort Mann oder Ehe macht sie dicht wie eine Muschel.«
    »Eine geplatzte Verlobung? Ein Verlobter, der im Krieg gefallen ist? Eine gescheiterte Beziehung, ein persönliches Drama, das sie nicht vergessen kann, Wehmut?«
    »Nicht mal das! Früher, als die Familie noch größer war, da haben Onkel und Tanten immer wieder versucht, ihr eine gute Partie anzudienen. Ja, absolut akzeptable Anwärter. Eine Pleite nach der anderen, ob du’s glaubst oder nicht!«
    »Seltsam …«
    »Allein zu bleiben? Aber ja! Also, ich könnte so was nicht … Ich hab zwar nicht gerade den schönsten Ehemann von der Küste erwischt, aber immerhin ist er da und hat mir meine Kinder geschenkt. Ein Leben wie meine Tante? Da bring ich mich lieber gleich um.«
    »Aber sie wirkt nicht gerade unglücklich.«
    »Also, das muss man ihr lassen: Sie beklagt sich nie. Selbst jetzt, wo sie immer schwächer wird und ihre Ersparnisse wie Butter dahingeschmolzen sind, sie beklagt sich einfach nie! Nein, sie schaut zum Fenster raus, sie lächelt, sie träumt. Man kann sagen, auch wenn sie nicht gelebt hat, so hat sie doch geträumt …«
    Gerda hatte recht. Emma lebte anderswo, nicht unter uns. Lag in der Haltung ihres Kopfes – seitwärts geneigt auf einem grazilen Hals – nicht etwas Nachdenkliches, das den Eindruck vermittelte, ihre Träume könnten vielleicht zu schwer wiegen?
    Seit diesem Gespräch nannte ich sie heimlich die Träumerin … die Träumerin von Ostende.
     
    Tags darauf hörte sie mich herunterkommen und lenkte ihren Rollstuhl in meine Richtung.
    »Möchten Sie Kaffee mit mir trinken?«
    »Gern.«
    »Gerda! Bring uns bitte zwei Kaffee.«
    Sie flüsterte mir zu:
    »Ihr Kaffee ist wie Spülwasser, so schwach, dass er nicht einmal einem Neugeborenen schadet.«
    Gerda brachte uns stolz zwei dampfende Schalen, als käme unser Verlangen, bei ihrem Gebräu zu schwatzen, einer Huldigung ihrer Kochkünste gleich.
    »Madame van A., was Sie mir da am ersten Abend gesagt haben, hat mir zu denken gegeben.«
    »Was?«
    »Ich komme schnell über das hinweg, was mich aus Paris vertrieben hat: Demnach ist das Ende dieser Beziehung auch kein großer Verlust. Erinnern Sie sich, Sie sagten mir, man käme nur über etwas hinweg, was keine Bedeutung habe, nicht aber über eine große Liebe.«
    »Ich habe einmal gesehen, wie ein Blitz in einen Baum einschlug. Ich fühlte mich dem Baum sehr nah. Es gibt Augenblicke, in denen man brennt, sich verzehrt, ein starkes, wunderbares Gefühl. Doch zurückbleibt nur Asche.«
    Sie wandte sich dem Meer zu.
    »Ein Baumstumpf, selbst wenn er noch lebt, kann nie wieder ein richtiger Baum werden, das gibt es nicht.«
    Mit einem Mal kam es mir vor, als sei sie, hier in ihrem Rollstuhl, dieser Baumstumpf im Boden …
    »Ich habe das Gefühl, Sie sprechen von sich«, sagte ich sanft.
    Sie fuhr zusammen. Eine plötzliche Unruhe, nahezu panisch, durchzuckte ihre Finger und beschleunigte ihren Atem. Um die Contenance nicht zu verlieren, griff sie nach ihrer Schale, trank, verbrannte sich und schimpfte auf den zu heißen Kaffee.
    Ich tat, als hätte ich ihr Ablenkungsmanöver nicht bemerkt, und kühlte ihren Kaffee mit ein wenig Wasser.
    Als sie sich wieder erholt hatte, sagte ich jedoch:
    »Madame, denken Sie bitte nicht, ich wollte Sie ausfragen, ich respektiere Ihr

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