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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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deutend.
    »Ich bitte Sie. Wer kennt schon alles? Zudem erwarte ich das gar nicht von den Leuten, mit denen ich verkehre.«
    Beruhigt hörte sie auf, an dem Korallenarmband zu drehen, das ihr schmales Handgelenk umschloss, und lächelte die Wände an.
    »Dabei verbringe ich meine gesamte Zeit mit Lesen. Ja, lese oft sogar ein und dasselbe Buch mehrmals. Große Werke erschließen sich einem ja eigentlich erst richtig beim dritten oder vierten Mal, nicht wahr?«
    »Wodurch zeichnet sich für Sie ein großes Werk aus?«
    »Ich überspringe jedes Mal eine andere Passage.«
    Sie griff nach einem in granatrotes Leder gebundenen Band, den sie, sichtlich bewegt, einen Spaltbreit öffnete.
    »Die Odyssee zum Beispiel. Welche Seite ich auch immer aufschlage, es ist ein Hochgenuss. Mögen Sie Homer, Monsieur?«
    »Aber … ja.«
    Ihre Pupillen weiteten sich, und ich begriff, dass sie meine Antwort als leicht dahingesagt, wenn nicht als flapsig empfand. Und so bemühte ich mich, etwas genauer zu werden.
    »Ich habe mich oft mit Odysseus identifiziert, er erweist sich eher als listenreich denn als intelligent, er kehrt ohne Eile nach Hause zurück und verehrt Penelope, ohne auch nur eine der hübschen Frauen zu verschmähen, die ihm während seiner Reise begegnen. Er ist eigentlich so wenig tugendhaft, dieser Odysseus, dass ich mich ihm nahe fühle. Für mich ist er modern.«
    »Wie kann man nur glauben, Amoralität sei zeitgebunden, das ist geradezu naiv … In jeder Generation bilden sich die jungen Leute ein, sie seien es, die das Laster erfunden hätten. Wie vermessen! Was für eine Art Literatur schreiben Sie eigentlich?«
    »Meine. Sie lässt sich nicht einordnen.«
    »Ausgezeichnet.« Ihrem schulmeisterlichen Ton entnahm ich, dass sie mich erneut einer Prüfung unterzog.
    »Darf ich Ihnen eines meiner Bücher schenken?«
    »Ah, Sie haben Ihre Bücher dabei?«
    »Nein. Aber ich bin sicher, dass in den Buchhandlungen von Ostende …«
    »Ach ja, die Buchhandlungen …«
    Sie sprach dieses Wort aus, als hätte man sie soeben an etwas weit Zurückliegendes, bereits Vergessenes erinnert.
    »Sie müssen wissen, Monsieur, diese Bibliothek, sie gehörte meinem Vater. Er hat Literatur unterrichtet. Seit meiner Kindheit lebe ich umgeben von diesen Publikationen ohne das Verlangen, seine Sammlung zu erweitern. Sie beinhaltet so viele kleine Schätze, die ich noch nicht gehoben habe. Sehen Sie nur, gleich hinter Ihnen, George Sand, Dickens … einige Bände habe ich noch immer nicht gelesen. Desgleichen Victor Hugo.«
    »Ist es nicht bezeichnend für das Genie Victor Hugos, dass sich bei ihm immer eine Seite findet, die man noch nicht gelesen hat?«
    »Richtig. Deshalb lebe ich auch so und nicht anders, umgeben und behütet von Giganten! Und deshalb gibt es hier auch keine … Neuerscheinungen.«
    Nach kurzem Zögern war ihr das Wort ›Neuerscheinungen‹ so widerwillig über die gespitzten Lippen gekommen, als handele es sich um etwas Vulgäres, wenn nicht Obszönes. Während ich ihr zuhörte, wurde mir bewusst, dass es tatsächlich ein Terminus aus der Geschäftswelt war, geeignet für einen Modeartikel, nicht aber für ein literarisches Werk; und ich begriff, dass ich in ihren Augen lediglich ein Autor von ›Neuerscheinungen‹ war, ein Lieferant gewissermaßen.
    »Waren die Romane von Daudet und Maupassant, als sie herauskamen, nicht auch ›Neuerscheinungen‹?«, fragte ich.
    »Die Zeit hat ihnen ihren Platz zugewiesen«, entgegnete sie, als hätte ich mir soeben eine Frechheit erlaubt.
    Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass jetzt sie die Naive sei, da ich mich aber nicht befugt fühlte, meiner Gastgeberin zu widersprechen, beschränkte ich mich darauf, den Grund für mein Unbehagen festzustellen: Diese Bibliothek atmete nicht, sie war seit vierzig oder fünfzig Jahren zu einem Museum erstarrt und würde sich nicht weiterentwickeln, solange ihre Eigentümerin sich weigerte, ihr auch nur einen Tropfen frischen Blutes zu injizieren.
    »Verzeihen Sie meine Indiskretion, Monsieur: Sind Sie alleinstehend?«
    »Ich bin hierhergekommen, um mich von einer Trennung zu erholen.«
    »Oh, das tut mir leid … aufrichtig leid … ich tue Ihnen weh, indem ich Sie wieder daran erinnere … bitte verzeihen Sie.«
    Ihre Wärme, ihr Erschrecken, ihre plötzliche Nervosität bezeugten ihre Aufrichtigkeit, sie machte sich tatsächlich Vorwürfe, dass sie meinen Kopf in einen Eimer voll unangenehmer Erinnerungen getaucht hatte. Sie

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