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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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mit einem Kopfschütteln:
    »Ja, ich war hinreißend. Und man hat mich geliebt!«
    »Dessen bin ich sicher.«
    Sie warf mir einen abschätzigen Blick zu.
    »Nein, Sie glauben mir nicht!«
    »Doch …«
    »Was soll’s. Es ist mir einerlei, was andere von mir denken oder gedacht haben. Und nicht nur das, ich bin auch verantwortlich für all die Unwahrheiten, die man sich über mich erzählt hat. Ich selbst bin schuld daran.«
    »Was hat man denn über Sie gesagt, Madame van A.?«
    »Nun ja, eben nichts.«
    Und nach einer Weile.
    »Nichts. Absolut nichts.«
    Sie zuckte die Schultern.
    »Hat Gerda nicht mit Ihnen darüber gesprochen?«
    »Worüber?«
    »Über dieses Nichts. Meine Familie glaubt, mein Leben sei leer gewesen. Geben Sie es zu …«
    »Äh …«
    »Da haben wir’s, sie hat’s gesagt! Mein Leben ist nichts. Und doch war es reich, mein Leben. Die anderen irren gewaltig mit ihrem Nichts.«
    Ich trat näher.
    »Wollen Sie mir davon erzählen?«
    »Nein. Ich habe es versprochen.«
    »Wie bitte?«
    »Ich habe es versprochen. Es ist ein Geheimnis.«
    »Versprochen? Wem? Wozu?«
    »Antworten heißt, Verrat begehen …«
     
    Diese Frau erstaunte mich: Was für ein Temperament in diesem alten Fräulein schlummerte, welche Heftigkeit, wie wach sie war, wie intelligent, sie benutzte Worte wie Faustschläge.
    Und wieder wandte sie sich mir zu.
    »Wissen Sie, ich bin geliebt worden wie selten jemand. Und ich habe geliebt. Ebenso intensiv. Oh, ja, ebenso intensiv, sofern es denn möglich war …«
    Ihr Blick verschleierte sich.
    Ich legte meine Hand auf ihre Schulter, um sie zu ermutigen.
    »Eine Liebesgeschichte zu erzählen ist nicht verboten.«
    »Mir schon. Denn die Personen, die damit zu tun haben, sind zu wichtig.«
    Ihre Hände schlugen auf ihre Knie, als befehle sie denen zu schweigen, die sprechen wollten.
    »Wozu habe ich denn all die Jahre geschwiegen, wenn ich das Schweigen jetzt plötzlich breche? Hm? Die ganze Mühe, all die Jahre, umsonst?«
    Ihre knotigen Finger griffen nach den Rädern ihres Rollstuhls, versetzten ihnen einen kräftigen Schubs, und sie verließ den Raum, um sich in ihrem Schlafzimmer einzuschließen.
     
    Als ich aus der Villa Circé trat, begegnete ich Gerda auf dem Trottoir. Sie war damit beschäftigt, den Abfall zu trennen und in verschiedene Mülltonnen zu verteilen.
    »Sind Sie wirklich sicher, dass Ihre Tante nie eine große Leidenschaft hatte?«
    »Hundertprozentig. Wir haben sie oft damit aufgezogen. Wär da was gewesen, hätte sie’s längst erzählt, schon allein, um ihre Ruhe zu haben!«
    Mit entsetzlichem Getöse presste sie die drei Plastikflaschen auf die Größe von Korken zusammen.
    »Ich muss noch einmal darauf zurückkommen, Gerda, denn ich bin davon überzeugt.«
    »Da sieht man, dass du dein Brot mit Lügenmärchen verdienst, Junge. Was für eine blühende Phantasie!«
    Ihre plumpen Hände zerrissen die Verpackungskartons, als wären sie aus Zigarettenpapier. Plötzlich hielt sie inne und sah zwei Möwen nach, die über uns hinwegflogen.
    »Also, da du nun mal nicht lockerlässt; mir fällt da Onkel Jan ein. Ja. Der mochte Tante Emma sehr. Einmal hat er mir was Komisches erzählt: Sämtliche Männer, die versuchten, Tante Emma den Hof zu machen, ergriffen nach kurzer Zeit die Flucht.«
    »Und weshalb?«
    »Na, weil sie eine böse Zunge hatte.«
    »Sie und böse?«
    »Das hat er gesagt, der Onkel Jan. Das Resultat siehst du ja! Keiner hat sie gewollt.«
    »Wenn man analysiert, was euer Onkel Jan da erzählt hat, dann war eher sie es, die keinen wollte.«
    Die Nichte staunte, auf diesen Gedanken war sie nicht gekommen. Ich fuhr fort:
    »Wenn sie sich Männern gegenüber so anspruchsvoll gegeben hat wie gegenüber Schriftstellern, dann hat bestimmt keiner Gnade vor ihr gefunden. Da ihr keiner gut genug war, hat sie alles getan, um sie zu entmutigen. In Wirklichkeit wollte Ihre Tante unabhängig bleiben!«
    »Möglich«, räumte die Nichte widerwillig ein.
    »Und was, wenn sie sich die Männer nur vom Leib gehalten hat, um den Platz des Mannes zu verteidigen, den sie schützte, der einzige, von dem sie nie gesprochen hat?«
    »Tante Emma? Ein Doppelleben? Hm … die Ärmste …«
    Gerda brummte skeptisch. Ihre Tante interessierte sie einzig als Opfer, ihr Mitgefühl war nicht frei von Geringschätzung; sobald man Gerda Anlass zur Vermutung gab, dass hinter Emmas Verhalten ruhige Überlegung und Einfallsreichtum stecken könnten, verlor sie das Interesse. Rätsel

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