Die Triffids: Roman - Mit einem Vorwort von M. John Harrison (German Edition)
wahrscheinlich außerhalb seiner Laufbahn befinden würden.
Das alles war unzweifelhaft am Abend zuvor geschehen – denn wäre es länger hergewesen, hätte ich zum Beispiel noch viel hungriger sein müssen, als ich es ohnehin war.
Was aber war dann passiert? Hatten sich das Krankenhauspersonal und die ganze Stadt von der nächtlichen Aufregung noch nicht erholt, lagen alle noch in den Federn?
Da wurden meine Überlegungen unterbrochen, denn das Konzert der Uhren aus nah und fern setzte ein.
Ich läutete wieder. Und wartete. Vom Flur her kam ein unbestimmtes Geräusch, es hörte sich an wie ein Wimmern, Schlurfen und Tappen, hie und da übertönt von fernen Rufen.
Aber niemand kam.
Ich wurde rückfällig. Die Schrecken und Albtraumgestalten der Kindheit waren wieder um mich.
Nein, ich bin kein Hasenfuß und Geisterseher, wirklich nicht … Die verdammten Binden um die Augen und die Schreie im Flur waren schuld, dass meine Nerven versagten. Das Grauen hatte mich gepackt – und wenn es dich erst einmal gepackt hat, wird es immer mächtiger. Schon jetzt war ich über das Stadium hinaus, wo sich die Gespenster noch durch Pfeifen oder Singen vertreiben ließen.
Zuletzt lief es auf die Frage hinaus: Was fürchtete ich mehr, die Gefährdung meines Augenlichts durch die vorzeitige Abnahme des Verbands oder die Finsternis und die wachsende Angst?
Ich weiß nicht, welche Entscheidung ich ein, zwei Tage früher getroffen hätte – wahrscheinlich letztlich die gleiche –, an diesem Morgen durfte ich mir wenigstens sagen: »Verflucht noch mal, viel Schaden kann ich doch nicht anrichten, wenn ich meinen Verstand gebrauche. Der Verband sollte ja heute herunter. Ich will es riskieren.«
Ich halte mir zugute, dass ich noch Verstand genug besaß, den Wundverband nicht einfach wild herunterzureißen. Ich hatte genügend Selbstkontrolle, um den Vorhang zuzuziehen, bevor ich die Sicherheitsklammern löste.
Sobald ich die Binden abgewickelt hatte und merkte, dass ich im Dämmerlicht sehen konnte, fühlte ich eine Erleichterung wie nie zuvor in meinem Leben. Doch nachdem ich mich vergewissert hatte, dass wirklich kein finsteres Wesen unter dem Bett oder anderswo lauerte, klemmte ich als Erstes einen Stuhl mit der Rückenlehne unter den Türgriff. Allmählich gewann ich meine Fassung zurück. Eine ganze Stunde ließ ich mir Zeit, um mich an das Tageslicht zu gewöhnen. Dann stellte ich fest, dass ich so gut sah wie früher; schnelle Erste Hilfe und die Kunst der Ärzte hatten mir das Augenlicht gerettet.
Aber noch immer kam niemand.
Im unteren Fach des Nachtkästchens fand ich vorsorglich eine dunkle Brille bereitgelegt. Vorsichtshalber setzte ich sie auf, ehe ich ans Fenster trat. Ich gewahrte ein, zwei Passanten, die auf eine wunderliche, ziellose Art dahinzuwandern schienen. Was mir aber sogleich weit mehr auffiel, war die klare Sicht, die Schärfe der Umrisse auch des fernen Dächerpanoramas. Und dann entdeckte ich, dass nirgends Rauch aufstieg, kein Schornstein qualmte weit und breit …
Meine Kleider fand ich fein säuberlich in den Schrank gehängt, und als ich mich angezogen hatte, fühlte ich mich sofort dem Normalzustand näher. Ein paar Zigaretten waren noch im Etui. Ich zündete mir eine an. Langsam wurde ich ruhiger und verstand schon gar nicht mehr, warum ich eben noch so von Panik erfüllt gewesen war.
Es ist heute nicht leicht, sich in jene Tage zurückzuversetzen. Wir müssen uns jetzt vor allem auf unsere eigenen Kräfte verlassen. Aber damals gab es so viel Routine, alles war so miteinander verknüpft. Jeder von uns trug an seinem Platz seinen kleinen Anteil zu dem großen Ganzen bei, und man konnte leicht Gewohnheiten und Gebräuche mit Naturgesetzen verwechseln – umso verwirrender war es deshalb, als plötzlich all diese Routine zusammengebrochen war.
Wer sein ganzes Leben in einer bestimmten Ordnung zugebracht hat, stellt sich nicht in fünf Minuten völlig um. Wenn ich auf unser damaliges Leben zurückblicke, finde ich es nicht nur erstaunlich, sondern regelrecht erschütternd, was wir alles über unser Alltagsleben nicht wussten und worum wir uns nicht kümmerten. Ich wusste zum Beispiel so gut wie nichts darüber, wie ich zu meiner Nahrung kam, woher das Wasser aus der Leitung stammte, wie die Stoffe meiner Kleidung hergestellt und genäht wurden, welche Bedeutung das Abwassersystem der Städte für die Gesundheitsvorsorge hatte. Unser Leben war bestimmt durch ein Netz von Spezialisten, die
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