Die Trinity Verschwörung
vollkommen verändern kann, wenn er das Glück hat, zur rechten Zeit in Gegenwart des richtigen Lehrers das richtige Buch in die Hand zu bekommen.
» Also«, begann Gaddis, » was für einer ist dieser Sergej Platow?« Der Geschäftsführer von Daunts hatte ihn gebeten zu beginnen, weil er nicht mehr damit rechnete, dass von den dreißig bereitgestellten Stühlen noch ein paar von neugierigen Passanten besetzt würden. » Ein Heiliger oder ein Sünder? Hat sich Platow der Kriegsverbrechen in Tschetschenien schuldig gemacht, hat er persönlich die Ermordung von Journalisten veranlasst, die seiner Regierung kritisch gegenüberstanden, oder ist er ein großer Staatsmann, der Mütterchen Russland zu alter Macht zurückgeführt und das Land ganz nebenbei von Dekadenz und Korruption befreit hat?«
Für Gaddis war das lediglich eine rhetorische Frage. Platow war ein Schmutzfleck auf der russischen Landkarte, ein Borderline-Soziopath, der in nicht einmal zehn Jahren alle Hoffnungen auf Demokratie in Russland zunichtegemacht hatte. Der ehemalige KGB -Agent hatte grünes Licht für die Ermordung russischer Zivilisten auf ausländischem Boden gegeben, osteuropäische Staaten mit dem Griff zum Gashahn erpresst und die Ermordung von Journalisten und Menschenrechtlern veranlasst, die mutig genug waren, sein Regime zu kritisieren. Eine dieser Journalistinnen – Katarina Tichonow – war eine gute Freundin von Gaddis gewesen. Sie hatten über fünfzehn Jahre im Briefkontakt gestanden und sich jedes Mal getroffen, wenn er in Moskau gewesen war. Vor drei Jahren war sie im Fahrstuhl ihres Mietshauses erschossen worden. Nicht ein einziger Verdächtiger war im Zusammenhang mit dem Mord festgenommen worden, ein unfassbarer Umstand, auf den er in seinem Buch deutlich hingewiesen hatte.
Er sah in seine Notizen.
» Sergej Platow, das erzählt uns die Geschichte, ist ein Überlebender aus einer Familie von Überlebenden.«
» Was meinen Sie damit?« Die ältere Dame aus Hampstead, die in der ersten Reihe saß, stellte jetzt schon Fragen. Gaddis’ nachsichtiges Lächeln schmeichelte ihr und hatte den nützlichen Nebeneffekt, dass sie sich für die Unterbrechung schämte.
» Ich meine damit, seine Familie hat die schlimmsten Exzesse überlebt, die das Russland des Zwanzigsten Jahrhunderts an ihr verüben konnte. Platows Großvater überlebte seine Dienstjahre als Josef Stalins Koch und konnte darüber berichten. Was an sich schon ein Wunder war. Sein Vater überlebte als einer von nur vier Soldaten einer Einheit von achtundzwanzig Männern, die 1941 bei Kingisepp an die Deutschen verraten wurden. Sergej Spiridonowitsch Platow entging der Gefangennahme nur, weil er in einem Teich untertauchte und durch ein Stück Schilfrohr atmete. Denselben Trick führt uns Sean Connery in Dr. No vor.«
Jemand lachte. Durch die Holland Park Avenue rauschte der Verkehr. Sam Gaddis blickte auf nickende, aufmerksame Gesichter.
» Haben Sie von der Belagerung Leningrads gehört?«, fragte er. Eigentlich hatte er nicht damit anfangen wollen, nicht heute Abend, aber über dieses Thema hatte er am UCL viele Vorlesungen gehalten, und die Leute hier im Daunt Bookshop würden darauf abfahren. Der Geschäftsführer, der in der Nähe der Ladentür stand, nickte beinahe enthusiastisch mit dem Kopf.
» Wir sind im Winter 1942. Nachts zeigt das Thermometer zwanzig Grad unter null. Drei Millionen Menschen sind von deutschen Truppen eingekesselt, darunter eine Million Frauen und Kinder.« Die ältere Dame schnaufte. » Nahrungsmittel sind so knapp, dass täglich fünftausend Menschen sterben. Leningrads gesamte Vorräte sind von deutschen Brandbomben zerstört worden. Der Boden unter den Badayew Lagerhäusern ist nach Feuerstürmen von geschmolzenem Zucker getränkt. Die Leute sind so hungrig, dass sie den gefrorenen Boden aufhacken, um an den Zucker zu kommen. Für Erde aus dem obersten Meter zahlt man auf dem Schwarzmarkt hundert Rubel das Glas, die aus dem nächsten Meter bekommt man für fünfzig.«
Ein Glöckchen. Verkehrslärm platzt plötzlich herein. Die Tür des Buchladens hatte sich geöffnet, eine junge Frau betrat den Laden: das schwarze Haar schulterlang, kniehohe Lederstiefel über Blue Jeans und eine Figur, die ein geschiedener Hochschullehrer von dreiundvierzig Jahren mit drei Gläsern Sauvignon Blanc im Blut schon mal zur Kenntnis nimmt und auf die Retina bannt, selbst wenn er gerade einen Vortrag anlässlich der Präsentation seines eigenen Buches
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