Die undankbare Fremde
mit: »Das Beste für Sie« in die Knie auf den Küchenboden, um ihn zu polieren.
Mara empörte sich:
»Haben wir unser Land verlassen, um die Freiheit zu bekommen, zwischen giftigen Putzmitteln zu wählen?«
Es gab keine Menschenmasse, in der wir hätten aufgehen können wie einst in unseren Demonstrationen zum Ruhm des Fabrikproletariats. Hier trugen bloß zwei Langhaarige das Transparent »Recht auf Faulheit« und waren ernst dabei wie bei der Arbeit. Ich ging mit Mara dorthin, wo sich Menschen fröhlich zusammendrängten. Doch im Kinosaal waren nur ein paar Männer. Da die Frauen in diesem Land kein Wahlrecht hatten, gingen sie wohl auch nicht ins Kino. Der Film war allerdings gar nicht politisch: Zwei Freundinnen tranken im Wohnzimmer zusammen mit einem Mann Kaffee zum Kuchen, und als sie ihre Büstenhalter auszogen, rückten die Zuschauer näher an uns heran. Bei der Science-Fiction-Szene, bei der der Filmheld seine Hose aufknöpfte, rannten wir hinaus.
Mara sagte:
»Wir lassen uns von niemandem zum Kuchenessen einladen.«
Aber die Privatsphäre, die überall an Mauern und Säulen hing, sahen wir nur dort. Die Einheimischen boten den Fremden nicht an, sich auf ihren Polstergruppen das Recht auf Faulheit zu nehmen. Dafür gab es freien Eintritt in ein ehrwürdiges Gebäude, das aussah wie Höchstes Gericht, Naturhistorisches Museum und Hauptbahnhof in einem. Hier waren auf mehreren Stockwerken unter einer Glaskuppel Dinge mit diskreten Preisschildern ausgestellt. Meist unnütz, dafür farbig und aus allen erdenklichen Materialien, thronten sie majestätisch im Licht. Zeugnisse einer Hochkultur. Durch Selektion hatten sie sich aus einem Urding entwickelt. Welche Artenvielfalt, Zwischenarten, durch Mutation entstanden. Bei uns gab es – wie bei der Erschaffung der Welt – ein Brot, einen Lippenstift, eine Mutter, eine Partei, eine Fischkonserve und sehr selten eine Nylonstrumpfhose.
Es wäre grausam den Dingen gegenüber, sich für etwas zu entscheiden und alles andere zu verschmähen. Ich taumelte hinaus, setzte mich auf eine Parkbank und rupfte in Gedanken mein Durcheinander aus Wünschen kahl, bis ein einziger übrig blieb. Dann zwang ich mich zur Blindheit, ging wieder hinein, aber auch, wenn ich die Dinge nicht beachtete, riefen sie mich zu sich. Um hier einzukaufen, musste man blind und taub sein. Kurz vor Ladenschluss schnallte ich mir einen breiten Gürtel um. Den Rest des Geldes schenkte ich einem Mann, der ausgestoßen von den Dingen auf dem Gehsteig saß. Sein Bart war verklumpt, sein Hund lag eingerollt und tot neben einem leeren Napf, wie ein Ding, allerdings ohne Preisschild. Wären die Obdachlosen aus buntem glattem Plastik, würde man sie abstauben, anpreisen und hätscheln bis zum Ausverkauf. Ihr Missgeschick war, dass sie noch lebten und nicht glänzten.
Mara sagte, es gebe irgendwo einen Einblick ins Innere der Häuser, es gebe Vitrinen, in denen Frauen in Unterwäsche mit Rüschen und in Stiefeln wie Dinge säßen. Und Männer würden sie aus dieser Lage nicht befreien, sondern nur kurz mieten und wieder zurückstellen. Und die Frauen würden nicht weglaufen, sie seien geworden wie Dinge, dingfest eben. Da die Dinge in der Demokratie in der Mehrheit waren, hatten sie Macht, und die Menschen dienten ihnen und priesen sie mit der Zahl 9,99 und deren Variationen an. Vor Nullen hatten sie Angst wie vor Obdachlosen. War jemand eine Null, wurde er obdachlos.
Sie sitzt in der Fremde alleine im Zimmer mit der schreienden Tochter, geht mit ihr kaum hinaus. Sie schämt sich für ihr Schreien.
»Haben Sie sich über Ihre Tochter gefreut, als Sie sie zum ersten Mal sahen?«, fragt die Neurologin.
»Erleichtert war ich.«
»Waren Sie nervös in der Schwangerschaft?«
Die Frau fängt an zu weinen. Die Ärztin entschuldigt sich für das Hinabsteigen in die Vergangenheit. Meine Stimme rollt in beiden Sprachen gleichmäßig, ich achte darauf, dass ich den Blickkontakt halte, den Kopf nach rechts, den Kopf nach links. Blickkontakt gehört zum Beruf. Mehr als das, der Blick ist an diesem Nachmittag ein Teil der Anamnese. Die Zweijährige hat nämlich ihre Mutter nie lange und zufrieden angeschaut.
Waren es im Krieg die Besatzer, sind es in der Nachkriegszeit die eigenen Landsleute, Kollaborateure, die im Morgengrauen in die Häuser eindringen, entführen und verstümmelte Leichen an die Familien verkaufen. Gesehen hat sie ihren Mann selten, jede Nacht verbrachte er anderswo, mal im Wald, mal bei
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