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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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er ihn zusammen mit dem Tierarzt. Als er ihn heimbrachte, war Karenin noch nicht aus der Narkose aufgewacht. Er lag mit geöffneten Augen neben dem Bett auf dem Teppich und winselte. Die Haare auf dem Schenkel waren wegrasiert, und er hatte dort einen Schnitt mit sechs Nahtstichen.
    Etwas später versuchte er aufzustehen. Aber er konnte es nicht.
    Teresa war entsetzt bei dem Gedanken, daß er nie mehr laufen könnte.
    »Hab keine Angst«, sagte Tomas, »er ist noch benommen von der Narkose.«
    Sie versuchte, ihn hochzuheben, aber er schnappte nach ihr. Das war noch nie geschehen, daß er Teresa beißen wollte!
    »Er weiß nicht, wer du bist«, sagte Tomas, »er erkennt dich nicht.«
    Sie legten ihn wieder neben ihr Bett, wo er rasch einschlief.
    Sie schliefen ebenfalls ein.
    Es war drei Uhr morgens, als er sie auf einmal weckte. Er wedelte mit dem Schwanz und tapste auf ihnen herum. Er liebkoste sie wild und unersättlich.
    Auch das war noch nie geschehen, daß er sie aufgeweckt hatte! Er wartete sonst immer, bis einer von ihnen erwachte, und wagte erst dann, auf ihr Bett zu springen.
    Diesmal hatte er sich aber nicht beherrschen können, als er mitten in der Nacht plötzlich wieder zu Bewußtsein kam.
    Wer weiß, aus welchen Fernen er zurückgekehrt war! Wer weiß, mit welchen Spukbildern er gekämpft hatte! Als er nun sah, daß er zu Hause war und er seine Nächsten wiedererkannte, mußte er ihnen seine wahnsinnige Freude kundtun, die Freude über seine Rückkehr und seine Wiedergeburt.
    Am Anfang der Genesis steht geschrieben, daß Gott den Menschen geschaffen hat, damit er über Gefieder, Fische und Getier herrsche. Die Genesis ist allerdings von einem Menschen geschrieben, und nicht von einem Pferd. Es gibt keine Gewißheit, daß Gott dem Menschen die Herrschaft über die anderen Lebewesen tatsächlich anvertraut hat. Viel wahrscheinlicher ist, daß der Mensch sich Gott ausgedacht hat, um die Herrschaft, die er an sich gerissen hat über Kuh und Pferd, heiligzusprechen. Jawohl, das Recht, einen Hirsch oder eine Kuh zu töten, ist das einzige, worin die ganze Menschheit einhellig übereinstimmt, sogar während der blutigsten Kriege.
    Dieses Recht erscheint uns selbstverständlich, weil wir es sind, die an der Spitze der Hierarchie stehen. Es brauchte aber nur ein Dritter ins Spiel zu treten, etwa ein Besucher von einem anderen Planeten, dessen Gott gesagt hätte: »Du wirst über die Geschöpfe der übrigen Gestirne herrschen«, und schon würde die Selbstverständlichkeit der Genesis mit einem Male problematisch. Der Mensch, der von einem Marsmenschen vor einen Wagen gespannt oder von einem Bewohner der Milchstraße am Spieß gebraten wird, wird sich vielleicht an das Kalbskotelett erinnern, das er auf seinem Teller zu zerschneiden gewöhnt war, und er wird sich (zu spät!) bei der Kuh entschuldigen.
    Teresa zieht mit ihren Kälbern weiter, sie treibt sie vor sich her, muß immer wieder eines von ihnen zurechtweisen, denn junge Kühe sind ausgelassen und springen vom Weg in die Felder. Karenin begleitet sie. Seit zwei Jahren geht er nun schon jeden Tag mit ihr zum
    Weideplatz. Es macht ihm Spaß, mit den Kälbern streng zu sein, sie anzubellen und mit ihnen zu schimpfen. (Sein Gott hat ihm die Herrschaft über die Kühe anvertraut, und er ist stolz darauf.) Diesmal läuft er jedoch mit großer Mühe und humpelt auf drei Beinen; am vierten hat er eine blutende Wunde. Immer wieder beugt Teresa sich zu ihm hinab und streichelt ihm den Rücken.
    Zwei Wochen nach der Operation steht fest, daß der Krebs nicht zum Stillstand gebracht werden konnte und es Karenin immer schlechter gehen wird.
    Unterwegs treffen sie eine Nachbarin, die in Gummistiefeln in den Kuhstall eilt. Sie bleibt stehen: »Was ist denn mit Ihrem Hund los? Er hinkt irgendwie!« Teresa sagt: »Er hat Krebs. Unheilbar!« und fühlt, wie sich ihre Kehle zusammenschnürt und sie nicht weitersprechen kann. Die Nachbarin sieht Teresas Tränen und wird beinahe wütend: »Mein Gott, Sie werden doch nicht um einen Hund heulen!« Sie hat das nicht böse gesagt, sie ist eine nette Frau und möchte Teresa mit ihren Worten eher trösten. Teresa weiß das, und außerdem lebt sie schon lange genug auf dem Dorf, um zu begreifen, daß die Dorfbewohner, würden sie jedes Kaninchen so lieben, wie sie ihren Karenin, kein einziges töten könnten und bald mit ihren Tieren Hungers sterben müßten. Trotzdem scheinen ihr die Worte der Nachbarin feindselig. »Ich weiß«,

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