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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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nächste Kino gab es in der zwanzig Kilometer entfernten Stadt. So kam es, daß sich die Leute nach getaner Arbeit, während der sie sich noch fröhlich zugerufen und in den Pausen miteinander geplaudert hatten, in die vier Wände ihrer modern möblierten Häuschen zurückzogen (durch die wie ein Luftzug die Geschmacklosigkeit wehte) und die Augen auf den Bildschirm des Fernsehers hefteten. Sie besuchten sich nicht mehr und gingen höchstens vor dem Abendbrot auf einen Sprung zum Nachbarn, um ein paar Worte zu wechseln. Alle träumten davon, in die Stadt zu ziehen. Das Dorf konnte ihnen nichts bieten, was das Leben auch nur annähernd interessant gemacht hätte.
    Vielleicht hat der Staat die Macht über das Dorf gerade deswegen verloren, weil niemand hier Wurzeln schlagen will.
    Ein Bauer, dem sein Boden nicht mehr gehört und der nur noch Feldarbeiter ist, hängt weder an der Landschaft noch an seiner Arbeit, er hat nichts zu verlieren, sich um nichts zu sorgen. Dank dieser Gleichgültigkeit hat das Land sich eine beachtliche Autonomie und Freiheit bewahrt. Der Vorsitzende der Genossenschaft wird nicht von Außenstehenden eingesetzt (wie alle leitenden Verantwortlichen in den Städten), sondern direkt von den Dorfbewohnern gewählt; er ist einer von ihnen.
    Weil alle wegwollten, hatten Teresa und Tomas dort eine außergewöhnliche Stellung: sie waren freiwillig gekommen.
    Wenn die anderen jede Gelegenheit wahrnahmen, um wenigstens einen Tag in den Städten der Umgebung zu verbringen, so lag Teresa und Tomas an nichts anderem, als dort zu bleiben, wo sie waren, weshalb sie die Dorfbewohner bald besser kannten als diese sich untereinander.
    Der Vorsitzende der Genossenschaft war für sie ein richtiger Freund geworden. Er hatte eine Frau, vier Kinder und ein Schwein, das er dressiert hatte, als wäre es ein Hund. Das Schwein hieß Mephisto und war der Stolz und die Attraktion des Dorfes. Es gehorchte aufs Wort, war blitzsauber und rosarot und trottete auf seinen kleinen Hufen einher wie eine Frau mit dicken Waden auf hohen Absätzen.
    Als Karenin Mephisto zum ersten Mal sah, war er ganz aufgeregt, lief lange um ihn herum und beschnüffelte ihn.
    Aber bald schon hatte er sich mit ihm angefreundet und zog ihn den Hunden des Dorfes vor, die er verachtete, weil sie an ihren Hütten festgebunden waren und blöd kläfften, ununterbrochen und ohne Grund. Karenin wußte die Rarität richtig zu schätzen, und ich wage zu sagen, daß er die Freundschaft mit dem Schwein schätzte.
    Den Vorsitzenden der Genossenschaft freute es, daß er seinem ehemaligen Chirurgen hatte helfen können, doch zugleich war er unglücklich, nicht mehr für ihn tun zu können. Tomas wurde Lastwagenfahrer und fuhr die Landarbeiter aufs Feld oder transportierte Geräte.
    Der Genossenschaft gehörten vier große Kuhställe und ein kleiner Stall mit vierzig Kälbern. Sie wurden Teresas Obhut anvertraut, und sie führte sie zweimal täglich auf die Weide. Weil die umliegenden, leicht zugänglichen Wiesen zum Mähen bestimmt waren, mußte Teresa mit der Herde auf die nahen Hügel ziehen. Die Kälber grasten allmählich immer weiter entfernte Weideplätze ab, und so durchwanderte Teresa mit ihnen im Laufe des Jahres die ausgedehnte Landschaft rund um das Dorf. Wie einst in der kleinen Stadt, hatte sie stets ein Buch in der Hand; wenn sie auf der Wiese angekommen war, öffnete sie es und las.
    Karenin begleitete sie immer. Er hatte gelernt, die jungen Kühe anzubellen, wenn sie zu übermütig wurden und sich von den anderen entfernen wollten, und er tat es mit sichtlicher Freude. Gewiß war er der glücklichste von den dreien.
    Sein Amt als >Hüter der Uhrzeit< war noch nie so respektiert worden wie hier, wo es keinen Platz gab für Improvisationen. Die Zeit, in der Teresa und Tomas lebten, näherte sich der Regelmäßigkeit seiner eigenen Zeit.
    Eines Tages gingen sie alle drei nach dem Mittagessen (dem Moment, da sie beide eine Stunde frei hatten) auf den Berghängen hinter dem Haus spazieren.
    »Mir gefällt es nicht, wie er läuft«, sagte Teresa.
    Karenin hinkte auf einem Hinterbein. Tomas beugte sich zu ihm hinab, tastete das Bein ab und entdeckte eine kleine Beule am Schenkel.
    Am nächsten Tag setzte er ihn neben sich auf den Sitz des Lastwagens und machte Halt im Nachbardorf, wo der Tierarzt wohnte. Eine Woche später ging er wieder bei ihm vorbei und kehrte mit der Nachricht nach Hause zurück, daß Karenin Krebs hätte.
    Drei Tage später operierte

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