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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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PROLOG
    DEM VERDIENTEN ARBEITER Huang stand der Atem in Wolken vor dem Gesicht, während er unter den verblassenden Sternen die Huaihai Xilu entlangtrabte. Er zählte sich zu Shanghais Frühaufstehern, und für einen Mittsiebziger war sein Schritt von erstaunlicher Elastizität. Gesundheit war schließlich das höchste Gut, dachte er stolz und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Gesundheit konnten sich diese kränklichen Neureichen auch mit ihren Bergen von Geld nicht kaufen.
    Es gab wenig, worauf ein pensionierter Arbeiter wie Huang in den materialistisch orientierten neunziger Jahren noch stolz sein konnte.
    Er hatte bessere Tage gesehen. In den Sechzigern war er als Modellarbeiter ausgezeichnet worden und während der Kulturrevolution Mitglied der Mao-Zedong-Gedanken-Propagandatrupps gewesen, in den achtziger Jahren hatte er dann dem Nachbarschaftskomitee angehört – kurz gesagt, Huang war ein verdienter Arbeiter aus Chinas glorreichem Proletariat.
    Jetzt war er ein Niemand. Als Pensionist eines beinahe bankrotten staatlichen Stahlwerks mußte er mit immer geringeren Rentenzahlungen zurechtkommen. Und selbst in den Parteiorganen klang der Ehrentitel »verdienter Arbeiter« mittlerweile lächerlich veraltet.
    »Das sozialistische China geht vor die kapitalistischen Hunde«, dieser Refrain eines populären Spottverses kam ihm gleichsam als Entgegnung auf den steten Rhythmus seiner Schritte in den Sinn. Alles veränderte sich so rasch, daß man nicht mehr hinterherkam.
    Auch sein morgendlicher Lauf war nicht mehr der gleiche. Früher waren in dieser sternenbeschienenen Einsamkeit kaum Autos unterwegs gewesen, und er hatte den Pulsschlag der erwachenden Stadt spüren können. Jetzt herrschte selbst zu dieser frühen Stunde Verkehr, Fahrzeuge hupten, und der Kran auf der Baustelle an der nächsten Kreuzung war bereits in Betrieb. Dort sollte ein aufwendiger Apartmentkomplex für die neue Oberschicht entstehen.
    Auch sein unweit davon gelegenes Haus im alten shikumen -Stil, das er mit zehn anderen Arbeiterfamilien teilte, würde bald einem Geschäftshochhaus weichen müssen. Die Bewohner wollte man nach Pudong umsiedeln, dem neuen Stadtteil östlich des Huangpu, der früher Bauernland gewesen war. Dann würde er morgens nicht mehr durch die vertrauten Straßen des Stadtzentrums joggen können. Auch auf die spottbillige Miso-Suppe mit frischen Frühlingszwiebeln, getrockneten Krabben, Seetang und Stückchen fritierter Teigstange, mit der er sich früher in der Arbeiter- und Bauernkantine gestärkt hatte, mußte er nun verzichten. Anstelle des preiswerten Lokals, ausgezeichnet für seine »Verdienste um die Arbeiterklasse«, hatte eine Starbucks-Filiale eröffnet.
    Vielleicht war er einfach zu alt, um mit diesen Veränderungen Schritt zu halten. Huang seufzte, die Füße wurden ihm schwer, und seine Augenlider begannen zu zucken. Kurz vor der Kreuzung Huaihai und Donghu Lu fiel sein Blick auf eine Verkehrsinsel. Sie hatte früher wie ein frühlingshaftes Blumenbeet gewirkt, nun war sie Brachland, aus dem ein paar dürre Zweige stakten, so trostlos wie sein eigenes Gemüt.
    Dann gewahrte er im fahlen Lichtkreis der Straßenlaterne ein fremdartiges Objekt in Weiß und Rot – vermutlich war es von einem der Laster gefallen, die den nahe gelegenen Markt belieferten. Das weiße Stück erinnerte an eine lange Lotoswurzel, die aus einem roten Sack ragte; vermutlich war hier altes Fahnentuch verwendet worden. Bekanntlich wurde auf dem Land alles wiederverwertet, sogar das Banner mit den fünf Sternen. Huang hatte auch gehört, daß in den Nobelrestaurants Lotoswurzel mit Klebreisfüllung jetzt als beliebte Vorspeise galt.
    Nach zwei Schritten in Richtung Verkehrsinsel blieb er erschrocken stehen.
    Was er für eine Lotoswurzel gehalten hatte, stellte sich als wohlgeformtes menschliches Bein heraus, auf dem Tautropfen glänzten. Auch von einem Sack konnte bei näherem Hinsehen keine Rede sein; es war ein roter qipao , und die Seide des figurbetonten Kleides umschloß den Körper einer Frau, die kaum älter als Anfang Zwanzig sein konnte. Ihr Gesicht wirkte wächsern.
    Er kauerte sich hin, um die Leiche genauer zu betrachten. Das Kleid war bis über die Taille hinaufgerutscht und gab Schenkel und Scham dem gespenstischen Licht der Straßenlaterne preis. Die Seitenschlitze waren eingerissen, mehrere der Stoffknöpfe in doppelter Fischform standen offen, so daß ihre Brust hervorblitzte. Barfuß und ohne Strümpfe trug sie

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