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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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Er ist dorthin gefahren, um in den Tod zu gehen.
    Ja, Marie-Claude weiß es genau: Franz hat absichtlich den Tod gesucht. In den letzten Tagen, als er im Sterben lag und keinen Grund mehr hatte zu lügen, da wollte er nur noch sie sehen. Er konnte nicht sprechen, aber er sagte ihr mit Blicken Dank. Seine Augen baten sie um Verzeihung. Und sie hat ihm verziehen.
    29.
    Was ist von den sterbenden Menschen in Kambodscha geblieben?
    Ein großes Foto von einer amerikanischen Filmdiva, die ein asiatisches Kind in den Armen hält.
    Was ist von Tomas geblieben?
    Eine Inschrift: Er wollte das Reich Gottes auf Erden.
    Was ist von Beethoven geblieben?
    Ein mürrischer Mann mit einer unglaublichen Mähne, der mit tiefer Stimme sagt: »Es muß sein!«
    Was ist von Franz geblieben?
    Eine Inschrift: Rückkehr nach langem Irrweg.
    Und so weiter und so fort. Noch bevor man uns vergessen wird, werden wir in Kitsch verwandelt. Der Kitsch ist die Umsteigestation zwischen dem Sein und dem Vergessen.
SIEBTER TEIL DAS LÄCHELN KARENINS
    Aus dem Fenster sah man auf einen Berghang, der mit alten, knorrigen Apfelbäumen bewachsen war. Der Horizont darüber wurde von einem Wald begrenzt, und die Wellenlinie der Hügel verlor sich in der Ferne. Am Abend stand der weiße Mond am blassen Himmel, und das war die Zeit, da Teresa auf die Türschwelle trat. Der Mond hing am noch unverfinsterten Himmel und kam ihr vor wie eine Lampe, die man am Morgen vergessen hatte auszulöschen und die den ganzen Tag über in einer Totenkammer leuchtete.
    Auf dem Berghang wuchsen knorrige Apfelbäume, und keiner von ihnen konnte den Ort verlassen, wo er Wurzeln geschlagen hatte, genauso wie Teresa und Tomas, die nie mehr aus diesem Dorf würden weggehen können. Sie hatten das Auto, den Fernseher und das Radio verkauft, um ein kleines Haus mit Garten zu erstehen von einem Bauern, der in die Stadt gezogen war.
    Auf dem Lande zu leben war die einzige Fluchtmöglichkeit, die ihnen geblieben war, denn hier herrschte dauernd ein Mangel an Arbeitskräften, während genügend Wohnraum vorhanden war. Niemand war daran interessiert, die politische Vergangenheit derer zu untersuchen, die bereit waren, auf den Feldern und in den Wäldern zu arbeiten, und niemand beneidete sie.
    Teresa war glücklich, daß sie die Stadt verlassen hatten, diese Stadt mit den betrunkenen Gästen an der Bar und den unbekannten Frauen, die den Geruch ihres Schoßes in
    Tomas' Haar zurückließen. Die Polizei hatte aufgehört, sich mit ihnen zu beschäftigen, und die Geschichte mit dem Ingenieur verschmolz in ihrer Erinnerung mit der Episode auf dem Laurenziberg, so daß sie Traum und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten konnte. (Hatte der Ingenieur tatsächlich im Dienst der Geheimpolizei gestanden? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es gibt genug Männer, die für ihre heimlichen Treffen geliehene Wohnungen benutzen und nicht gern mehr als einmal mit derselben Frau schlafen.) Teresa war also glücklich und hatte das Gefühl, endlich am Ziel angelangt zu sein: sie war mit Tomas zusammen, und sie beide waren allein. Allein? Ich muß es genauer sagen: was ich Einsamkeit genannt habe, bedeutet, daß sie jeden Kontakt mit ihren ehemaligen Freunden und Bekannten abgebrochen haben. Sie hatten ihr Leben durchschnitten, als sei es ein Stück Band. Aber sie fühlten sich wohl in der Gesellschaft der Dorfbewohner, mit denen sie arbeiteten und die sie hin und wieder besuchten oder zu sich einluden.
    An jenem Tag, als Teresa in dem Kurort mit den russischen Straßennamen den Vorsitzenden der örtlichen Genossenschaft kennengelernt hatte, hatte sie in ihrem Inneren plötzlich das Bild vom Landleben entdeckt, wie es Erinnerungen an Bücher oder ihre Vorfahren in ihr zurückgelassen hatten: die Welt einer Gemeinschaft, in der alle Mitglieder eine Großfamilie bildeten, die durch gemeinsame Interessen und Bräuche miteinander verbunden war: durch die sonntägliche Andacht in der Kirche, das Wirtshaus, in dem die Männer sich ohne ihre Frauen trafen und den Saal dieses Wirtshauses, in dem samstags eine Kapelle dem Dorf zum Tanz aufspielte.
    Unter dem Kommunismus jedoch glich das Dorf nicht mehr diesem uralten Bild. Die Kirche befand sich im Nachbardorf, und keiner ging hin, die Wirtsstube war zu einem Büro geworden, für die Männer gab es keinen Ort zum Biertrinken, für die Jugend keinen Raum zum Tanzen.
    Kirchliche Feste durften nicht gefeiert werden, staatliche Feiertage interessierten niemanden. Das

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