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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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weiter.
    Er schaute oft bei ihr vorbei, aber immer nur als aufmerksamer Freund, niemals als Liebhaber. Hätte er nämlich in ihrem Atelier mit ihr geschlafen, wäre er innerhalb eines Tages von einer Frau zur anderen gegangen, von der Ehefrau zur Freundin und umgekehrt. Da in Genf die Ehepaare in französischen Betten schlafen, wäre er binnen weniger Stunden von einem Bett ins andere gewandert. Dies kam ihm sowohl für die Freundin als auch für die Frau und nicht zuletzt für ihn selbst erniedrigend vor.
    Seine Liebe zu dieser Frau, in die er sich vor einigen Monaten verliebt hatte, war ihm so kostbar, daß er sich bemühte, ihr in seinem Leben einen eigenen Platz einzuräumen, ein unbetretbares Territorium der Reinheit. Er wurde oft zu Gastvorträgen an ausländische Universitäten eingeladen, und jetzt nahm er bereitwillig alle Angebote an. Weil die Einladungen nicht ausreichten, dachte er sich Kongresse und Symposien aus, um die
    Reisen seiner Frau gegenüber zu rechtfertigen.
    Seine Freundin, die frei über ihre Zeit verfügen konnte, begleitete ihn. So lernte sie durch ihn innerhalb kurzer Zeit viele europäische und eine amerikanische Stadt kennen.
    »Wenn du nichts dagegen hast, könnten wir in zehn Tagen nach Palermo fahren«, sagte er.
    »Ich ziehe Genf vor«, antwortete sie. Sie stand vor der Staffelei und begutachtete ein unvollendetes Bild.
    »Wie kann man leben, ohne Palermo gesehen zu haben?« versuchte er zu scherzen.
    »Ich kenne Palermo«, sagte sie.
    »Wie denn das?« fragte er beinahe eifersüchtig.
    »Eine Bekannte hat mir eine Ansichtskarte von dort geschickt. Ich habe sie in der Toilette an die Wand geheftet. Ist sie dir nicht aufgefallen?«
    Dann fügte sie hinzu: »Es war einmal ein Dichter, zu Anfang unseres Jahrhunderts. Er war schon sehr alt, und sein Sekretär führte ihn spazieren. Meister, sagte er zu ihm, schauen Sie zum Himmel. Das erste Flugzeug fliegt über unsere Stadt! Ich kann es mir vorstellen, sagte der Meister zu seinem Sekretär, ohne die Augen vom Boden zu heben.
    Siehst du, und ich kann mir Palermo vorstellen. Es gibt dort die gleichen Hotels und die gleichen Autos wie in allen Städten. In meinem Atelier sind wenigstens die Bilder immer wieder anders.«
    Franz wurde traurig. Er hatte sich so an die Verbindung von Liebesleben und Reisen gewöhnt, daß in seiner Aufforderung >Laß uns nach Palermo fahren !< unmißverständlich eine erotische Botschaft lag. So konnte die Antwort >Ich ziehe Genf vor< nur bedeuten: seine Freundin begehrte ihn nicht mehr.
    Warum war er ihr gegenüber nur so unsicher? Es gab doch nicht den geringsten Anlaß. Sie war es gewesen, nicht er, die die Initiative ergriffen hatte, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten; er war ein gutaussehender Mann; er stand auf dem Gipfel seiner wissenschaftlichen Karriere und war sogar von seinen Kollegen für seine Selbstsicherheit und seine Unnachgiebigkeit in Fachdiskussionen gefürchtet. Warum also dachte er jeden Tag daran, daß seine Freundin ihn verlassen würde?
    Ich kann es mir nur so erklären, daß die Liebe für ihn nicht die Fortsetzung seines Lebens in der Öffentlichkeit war, sondern ein Gegenpol. Liebe bedeutete für ihn das Verlangen, sich dem anderen auf Gedeih und Verderb auszuliefern.
    Wer sich dem anderen ausliefert wie ein Soldat in die Gefangenschaft, muß zuvor die Waffen strecken. Wenn er nichts mehr hat, um den Schlag abzuwehren, so kann er nicht umhin, sich zu fragen, wann dieser Schlag ihn treffen würde.  Ich kann also sagen: für Franz bedeutete die Liebe ein ständiges Warten auf diesen Schlag.
    Während er sich seinen Ängsten überließ, hatte seine Freundin den Pinsel weggelegt und war im Nebenzimmer verschwunden. Sie kam mit einer Flasche Wein zurück.
    Wortlos zog sie den Korken und füllte zwei Gläser.
    Ihm fiel ein Stein vom Herzen, und er kam sich lächerlich vor. Die Worte >Ich ziehe Genf vor< bedeuteten nicht, daß sie nicht mehr mit ihm schlafen wollte, ganz im Gegenteil, sie hatte nur keine Lust mehr, die Stunden der Liebe auf fremde Städte zu beschränken.  Sie hob ihr Glas und trank es in einem Zug leer. Franz hob sein Glas und nahm einen Schluck. Er war sehr froh, daß ihre Weigerung, nach Palermo zu fahren, sich als  Aufforderung zur Liebe entpuppt hatte, zugleich aber empfand er Bedauern: seine Freundin hatte beschlossen, die Ordensregeln der Reinheit zu übertreten, die er ihrem Verhältnis auferlegt hatte; sie begriff nicht sein ängstliches Bemühen, die

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