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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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die in jenen Tagen zum Sprachrohr des Widerstandes geworden war. Alle, die im Raum waren und Dubcek hörten, haßten ihn in diesem Moment. Sie nahmen ihm den Kompromiß übel, auf den er sich eingelassen hatte, fühlten sich durch seine Erniedrigung erniedrigt, durch seine Schwäche beleidigt.
    Als sie nun in Zürich an diesen Moment zurückdachte, empfand sie keine Verachtung mehr. Das Wort >Schwäche< klang für sie nicht mehr wie ein Schuldspruch. Man ist immer schwach, wenn man mit einer Übermacht konfrontiert ist, selbst wenn man einen so athletischen Körper hat wie Dubcek. Sie fand die Schwäche plötzlich anziehend, die ihnen allen damals so unerträglich und abstoßend vorgekommen war, und die sie aus dem Land gejagt hatte. Ihr wurde bewußt, daß auch sie zu den Schwachen gehörte, zum Lager der Schwachen, zum Land der Schwachen, und daß sie ihnen treu bleiben mußte, gerade weil sie schwach waren und mitten im Satz nach Atem rangen.
    Von dieser Schwäche wurde sie angezogen wie vom Schwindel. Sie wurde von ihr angezogen, weil sie sich selbst schwach fühlte. Sie war wieder eifersüchtig, und ihre Hände hatten wieder zu zittern begonnen. Tomas bemerkte es und machte die vertraute Geste: er nahm ihre Hände in die seinen und wollte sie durch diesen Händedruck beruhigen. Sie riß sich los.
    »Was hast du?«
    »Nichts.«
    »Was kann ich für dich tun?«
    »Ich wollte, du wärest alt. Zehn, zwanzig Jahre älter!«
    Sie wollte damit sagen: Ich wollte, du wärest schwach. Du wärest so schwach wie ich.
    27.
    Karenin hatte der Umzug in die Schweiz nicht gefallen.
    Karenin haßte Veränderungen. Für einen Hund verläuft die Zeit nicht auf einer Geraden. Sie bewegt sich nicht kontinuierlich vorwärts, immer weiter und weiter, von einer Sache zur anderen. Sie verläuft in einer Kreisbewegung, ähnlich wie die Zeiger einer Uhr, die auch nicht wie verrückt vorwärtsrennen, sondern sich auf dem Zifferblatt im Kreis drehen, Tag für Tag auf derselben Bahn. Sie brauchten in Prag nur einen neuen Stuhl zu kaufen oder einen Blumentopf an einen anderen Platz zu stellen, und Karenin nahm das unwillig zur Kenntnis. Es brachte sein Zeitgefühl durcheinander.
    So würde es den Uhrzeigern ergehen, wenn man ständig die Zahlen auf dem Zifferblatt auswechselte.
    Trotzdem gelang es ihm bald, die alte Ordnung und die alten Zeremonien in der Zürcher Wohnung wieder einzuführen. Wie in Prag sprang er morgens auf das Bett, um sie beide im neuen Tag zu begrüßen, dann begleitete er Teresa beim morgendlichen Einkauf und bestand wie in Prag auf regelmäßigen Spaziergängen.
    Karenin war die Sonnenuhr ihres Lebens. In Momenten der Hoffnungslosigkeit sagte sie sich, daß sie ihm zuliebe durchhalten müßte, da er noch schwächer sei als sie, vielleicht noch schwächer als Dubcek und ihre verlassene Heimat.
    Sie kamen gerade von einem Spaziergang zurück, als das Telefon klingelte. Sie nahm den Hörer ab und fragte, wer am Apparat sei.
    Es war eine Frauenstimme, die deutsch sprach und Tomas verlangte. Die Stimme klang ungeduldig, und Teresa schien es, als schwinge Verachtung mit. Als sie sagte, Tomas sei nicht zu Hause und sie wisse nicht, wann er heimkomme, lachte die Frau am anderen Ende laut auf und hängte ein, ohne sich zu verabschieden.
    Teresa wußte, daß sie das nicht wichtig nehmen durfte. Es konnte eine Schwester der Klinik sein, eine Patientin, eine Sekretärin oder sonst jemand. Dennoch war sie verwirrt und konnte sich auf nichts mehr konzentrieren. In diesem Moment begriff sie, daß der letzte Rest an Kraft, den sie zu Hause noch besessen hatte, nun auch verschwunden war, daß sie diesen völlig belanglosen
    Vorfall nicht ertragen konnte.
    Wer in der Fremde lebt, schreitet in einem leeren Raum hoch über dem Boden, ohne das Rettungsnetz, das einem das eigene Land bietet, in dem man Familie, Kollegen und Freunde hat und sich mühelos in der Sprache verständigen kann, die man von Kindheit an kennt. In Prag war sie nur in ihrem Herzen von Tomas abhängig. Hier war sie in allen Dingen von ihm abhängig. Wenn er sie verließe, was sollte aus ihr werden? Sollte sie ihr ganzes Leben in der Angst verbringen, ihn zu verlieren?
    Sie sagte sich, daß ihre Begegnung von Anfang an auf einem Irrtum beruhte. Anna Karenina, die sie unter dem Arm gehalten hatte, war die falsche Eintrittskarte, mit der sie Tomas betrogen hatte. Sie hatten sich eine Hölle geschaffen, obwohl sie sich liebten. Sie liebten sich wirklich, und das war der

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