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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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Er ging zum Ufer hinunter und bestieg ein Linienschiff, um über den See zum anderen Ufer zu fahren, wo er wohnte.
    Sabina war wieder allein. Sie stellte sich noch einmal vor den Spiegel. Sie war noch immer in Unterwäsche. Sie setzte sich wieder die Melone auf und betrachtete sich lange. Sie wunderte sich, daß sie schon so lange einem einzigen verlorenen Augenblick nachjagte.
    Vor Jahren einmal war Tomas zu ihr gekommen, und die Melone hatte ihn fasziniert. Er hatte sie auf den Kopf gesetzt und sich im großen Spiegel angeschaut, der damals in ihrem Prager Atelier genau wie hier an der Wand lehnte. Er wollte sehen, wie er sich als Bürgermeister aus dem vorigen Jahrhundert gemacht hätte. Als Sabina sich langsam auszuziehen begann, setzte er ihr die Melone auf. Sie standen vor dem Spiegel und betrachteten sich (das taten sie immer, während Sabina sich auszog). Sie war in Unterwäsche und hatte die Melone auf dem Kopf. Plötzlich begriff sie, daß dieser Anblick sie beide erregte.  Wie ist das möglich? Eben noch war ihr die Melone auf dem Kopf wie ein Scherz vorgekommen. Ist es nur ein Schritt vom Lächerlichen zum Erregenden?
    Ja. Als sie damals in den Spiegel schaute, sah sie zunächst nur eine komische Situation. Aber dann wurde die Komik von der Erregung verdrängt: die Melone war kein Scherz mehr, sie bedeutete Gewalt; Gewalt an Sabina, an ihrer Würde als Frau. Sie sah sich mit ihren nackten Beinen und dem dünnen Slip, durch den das Dreieck ihrer Scham schimmerte. Die Wäsche unterstrich den Charme ihrer Weiblichkeit, der steife Männerhut verneinte, vergewaltigte diese Weiblichkeit, machte sie lächerlich. Tomas stand angekleidet neben ihr, was bewirkte, daß der Anblick, den sie beide im Spiegel boten, kein Spaß mehr war (dann hätte auch er Unterwäsche und eine Melone tragen müssen), sondern Erniedrigung. Statt sich gegen diese Erniedrigung zu wehren, spielte sie mit, stolz und provozierend, als ließe sie sich freiwillig und öffentlich Gewalt antun. Schließlich konnte sie nicht mehr und zerrte Tomas zu Boden. Die Melone rollte unter den Tisch und sie wälzten sich auf dem Teppich vor dem Spiegel.  Kehren wir noch einmal zur Melone zurück: Zunächst war sie eine vage Erinnerung an den vergessenen Großvater, den Bürgermeister einer böhmischen Kleinstadt im vergangenen Jahrhundert.
    Zweitens war sie ein Andenken an Sabinas Vater. Nach dem Begräbnis hatte ihr Bruder sich den ganzen elterlichen Besitz angeeignet, und sie hatte sich aus Stolz trotzig geweigert, um ihre Rechte zu kämpfen. Sie hatte in sarkastischem Ton verkündet, daß sie als einziges Erbstück vom Vater die Melone behielte.
    Drittens war sie ein Requisit für die Liebesspiele mit Tomas.
    Viertens war sie ein Zeichen ihrer Originalität, die sie bewußt pflegte. Sie hatte nicht viel in die Emigration mitnehmen können, und diesen sperrigen, unpraktischen Gegenstand mitzuschleppen bedeutete, auf andere, nützlichere Dinge zu verzichten.
    Fünftens: Im Ausland war die Melone zu einem sentimentalen Gegenstand geworden. Als sie Tomas in Zürich besuchte, nahm sie ihre Melone mit und trug sie auf dem Kopf, als sie ihm die Tür des Hotelzimmers öffnete. In diesem Moment geschah etwas, womit sie nicht gerechnet hatte: die Melone war weder lustig noch erregend, sie war ein Erinnerungsstück aus vergangenen Zeiten. Beide waren gerührt.
    Sie liebten sich wie nie zuvor: für obszöne Spiele war nun kein Platz, weil ihr Zusammensein nicht die Fortsetzung ihrer erotischen Rendezvous war, bei denen sie jedesmal eine kleine Perversion erfanden; es war eine Rekapitulation der Zeit, ein Abgesang auf ihre gemeinsame Vergangenheit, ein sentimentales Resümee ihrer unsentimentalen Geschichte, die sich in der Ferne verlor.
    Die Melone war ein Motiv in der Partitur ihres Lebens geworden. Dieses Motiv kehrte immer wieder und hatte jedesmal eine andere Bedeutung; alle diese Bedeutungen durchströmten die Melone wie das Wasser das Flußbett. Das war, ich kann es so sagen, das Flußbett des Heraklit: »Man badet nicht zweimal in demselben Fluß.« Die Melone war das Flußbett, in dem Sabina jedesmal einen anderen semantischen Fluß fließen sah: derselbe Gegenstand rief jedesmal eine andere Bedeutung hervor, aber alle vorangegangenen Bedeutungen waren in der neuen Bedeutung zu hören (wie ein Echo, wie eine Folge von Echos). Jedes neue Erlebnis erklang in einem reicheren Akkord. Im Zürcher Hotel waren Tomas und Sabina gerührt beim Anblick der Melone,

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