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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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Beweis, daß der Fehler nicht bei ihnen lag, nicht in ihrem Verhalten oder in unsteten Gefühlen, sondern darin, daß sie nicht zusammenpaßten, weil er stark war und sie schwach.
    Sie war wie Dubcek, der mitten im Satz Pausen von einer halben Minute machte, sie war wie ihre Heimat, die stotterte, nach Atem rang und nicht mehr sprechen konnte.
    Aber gerade der Schwache muß stark sein können und weggehen, wenn der Starke zu schwach ist, dem Schwachen ein Unrecht antun zu können.
    Das machte sie sich klar. Dann drückte sie ihr Gesicht an Karenins zottigen Kopf. »Sei mir nicht böse, Karenin. Du mußt noch einmal umziehen.«
    Sie drückte sich in eine Ecke des Abteils, den schweren Koffer über ihrem Kopf, Karenin zu ihren Füßen. Sie dachte an den Koch des Restaurants, in dem sie gearbeitet hatte, als sie noch bei der Mutter wohnte. Er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, ihr einen Klaps auf den Hintern zu geben, und sie mehrmals vor allen Leuten aufgefordert, mit ihm ins Bett zu gehen. Sonderbar, daß sie gerade jetzt an ihn dachte. Er verkörperte für sie all das, was sie ekelte. Jetzt aber konnte sie an nichts anderes denken, als daß sie ihn aufsuchen und ihm sagen würde: »Hast du nicht gesagt, du willst mit mir ins Bett? Hier bin ich.«
    Sie hatte Lust, etwas zu tun, das ihr jeden Weg zurück abschnitt. Sie hatte Lust, die vergangenen sieben Jahre gewaltsam auszulöschen. Das war das Schwindelgefühl. Eine betäubende, unüberwindliche Sehnsucht nach dem Fall.
    Man könnte auch sagen, Schwindel sei Trunkenheit durch Schwäche. Man ist sich seiner Schwäche bewußt und will sich nicht gegen sie wehren, sondern sich ihr hingeben. Man ist trunken von der eigenen Schwäche, man möchte noch schwächer sein, man möchte mitten auf einem Platz vor allen Augen hinfallen, man möchte unten, noch tiefer als unten sein.
    Sie hatte sich davon überzeugt, daß sie nicht in Prag bleiben und nicht mehr als Fotografin arbeiten wollte. Sie würde in die kleine Stadt zurückkehren, aus der Tomas' Stimme sie einst abberufen hatte.
    Als sie in Prag angekommen war, mußte sie zunächst dort bleiben, um die praktischen Dinge zu erledigen. Sie schob ihre Abreise auf.
    So verstrichen fünf Tage, und plötzlich stand Tomas in der Wohnung. Karenin sprang an ihm hoch und befreite sie beide für Momente von der Notwendigkeit, etwas zu sagen.
    Sie hatten das Gefühl, inmitten eines Schneefeldes zu stehen und vor Kälte zu zittern.
    Dann gingen sie aufeinander zu wie Liebende, die sich noch nie geküßt haben.
    Er fragte: »Ist alles in Ordnung?«
    »Ja.«
    »Warst du bei der Zeitung?«
    »Ich habe angerufen.«
    »Und?«
    »Nichts. Ich habe gewartet.«
    »Worauf?«
    Sie gab keine Antwort. Sie konnte ihm nicht sagen, daß sie auf ihn gewartet hatte.
    29.
    Kehren wir zu dem Augenblick zurück, den wir schon kennen. Tomas war verzweifelt und hatte Magenschmerzen. Er schlief erst spät in der Nacht ein.
    Kurz danach wachte Teresa auf. (Die russischen Flugzeuge kreisten noch immer über der Stadt, man konnte nicht schlafen in diesem Lärm.) Ihr erster Gedanke war: er war ihretwegen zurückgekommen. Ihretwegen hatte er sein Schicksal geändert. Nun war es nicht mehr er, der für sie verantwortlich war, nun war sie für ihn verantwortlich.
    Es kam ihr vor, als überstiege diese Verantwortung ihre Kräfte.
    Dann aber fiel ihr plötzlich ein, daß gestern, als er gerade zur Tür hereingekommen war, die Kirchen von Prag sechs Uhr geläutet hatten. Als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, war ihr Dienst um sechs zu Ende gewesen. Sie sah ihn wieder vor sich, wie er auf der gelben Bank saß und hörte das Glockengeläute vom Turm.
    Nein, es war kein Aberglaube, es war der Sinn für das Schöne, der die Beklommenheit von ihr nahm und sie mit neuer Lebenslust erfüllte. Die Vögel des Zufalls hatten sich einmal mehr auf ihren Schultern niedergelassen. Sie hatte Tränen in den Augen und war unendlich glücklich, ihn neben sich atmen zu hören.
DRITTER TEIL UNVERSTANDENE WÖRTER
    Genf ist eine Stadt der Springbrunnen und Wasserspiele, wo in den Parkanlagen noch die Musikpavillons stehen, in denen früher musiziert wurde. Sogar die Universität liegt hinter Bäumen versteckt. Franz, der gerade seine Vormittagsvorlesung beendet hatte, trat aus dem Gebäude. Aus den Gartenschläuchen rieselte feiner Wasserstaub auf den Rasen; Franz war ausgezeichneter Laune. Er ging von der Universität direkt zu seiner Freundin. Sie wohnte nur wenige Straßen

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