Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
Vom Netzwerk:
der Hand hätte kämpfen sollen oder nicht. Hier, in der Sicherheit der Emigration, verkündeten selbstverständlich alle, man hätte kämpfen müssen. Sabina sagte: »Geht doch zurück und kämpft!«
    Das hätte sie nicht tun sollen. Ein Mann mit graumelierter Dauerwelle wies mit seinem langen Zeigefinger auf sie: »Reden Sie nicht so. Wir sind alle verantwortlich für das, was dort passiert ist. Auch Sie. Was haben Sie denn zu Hause gegen das kommunistische Regime unternommen? Bilder gemalt haben Sie, das ist aber auch alles ...«
    In den kommunistischen Ländern gehört die Bewertung und Überprüfung der Bürger zu den gesellschaftlichen Hauptbeschäftigungen. Bevor man einem Maler eine Ausstellung bewilligt, einem Bürger ein Visum ausstellt, damit er Urlaub am Meer machen kann, bevor ein Fußballspieler in die Nationalmannschaft aufgenommen wird, müssen zunächst Gutachten und Zeugnisse über diese Personen eingeholt werden (von der Hauswartsfrau, von Kollegen, von der Polizei, von der Parteiorganisation, von der Gewerkschaft), und diese Gutachten werden dann von eigens dafür bestimmten Beamten gelesen, überdacht und resümiert. Was in diesen Gutachten steht, bezieht sich weder auf die Fähigkeit des Bürgers zu malen oder Fußball zu spielen, noch auf seinen Gesundheitszustand, der es erfordern würde, den Urlaub am Meer zu verbringen. Sie beziehen sich einzig und allein auf das, was man »das politische Profil des Bürgers« nennt (was der Bürger sagt, was er denkt, wie er sich verhält, ob und wie er an Versammlungen und Maikundgebungen teilnimmt).
    Da nun alles (Alltagsleben, Beförderung und Urlaub) davon abhängt, wie ein Bürger begutachtet wird, muß jeder (ob er nun in der Nationalmannschaft spielen, Bilder ausstellen oder ans Meer fahren will) sich so benehmen, daß er günstig beurteilt wird.
    Daran mußte Sabina denken, als sie den grauhaarigen Mann reden hörte. Es kümmerte ihn nicht, ob seine Landsleute gut Fußball spielten oder malten (kein Tscheche hatte sich je um Sabinas Malerei gekümmert), wohl aber, ob sie sich aktiv oder passiv, aufrichtig oder nur zum Schein, von Anfang an oder erst jetzt gegen das kommunistische Regime gestellt hatten.
    Als Malerin wußte sie Gesichter zu beobachten, und aus Prag kannte sie die Physiognomie von Leuten, die mit Leidenschaft andere überprüfen und beurteilen. Sie alle hatten einen Zeigefinger, der etwas länger war als der Mittelfinger, und mit dem sie auf ihre Gesprächspartner zielten. Übrigens hatte auch Präsident Novotny, der vierzehn Jahre lang (bis 1968) in Böhmen regiert hatte, das gleiche graue Haar mit Dauerwelle und den längsten Zeigefinger aller Bewohner Mitteleuropas.
    Als der verdiente Emigrant aus dem Munde der Malerin, deren Bilder er nie gesehen hatte, vernahm, daß er dem kommunistischen Präsidenten Novotny gleiche, wurde er feuerrot und kreideweiß, nochmals feuerrot und wieder kreideweiß, er wollte etwas sagen, sagte aber nichts und hüllte sich in Schweigen. Alle anderen schwiegen mit, bis Sabina sich erhob und den Raum verließ.
    Sie war unglücklich über den Vorfall, doch bereits auf dem Gehsteig dachte sie: warum sollte sie überhaupt mit  Tschechen verkehren? Was verband sie mit ihnen? Die Landschaft?
    Wenn alle hätten sagen müssen, was sie sich unter Böhmen vorstellten, so wären die Bilder, die vor ihren Augen entstünden, ganz verschieden und würden niemals eine Einheit bilden.
    Oder die Kultur? Aber was ist das? Die Musik? Dvorak und Janacek? Ja. Aber angenommen, ein Tscheche ist unmusikalisch? Das Wesen des Tschechentums löst sich mit einem Mal auf.
    Oder die großen Männer? Jan Hus? Keiner der Anwesenden hatte auch nur eine Zeile seiner Schriften gelesen. Das einzige, was sie gleichermaßen verstehen konnten, waren die Flammen, der Ruhm der Flammen, in denen er als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt, der Ruhm der Asche, zu der er geworden war. Das Wesen des Tschechentums, sagte sich Sabina, ist für sie ein Häufchen Asche, sonst nichts.
    Was diese Leute verbindet, sind die gemeinsame Niederlage und die Vorwürfe, mit denen sie sich gegenseitig überschütten.
    Sie ging rasch durch die Straßen. Mehr als der Bruch mit den Emigranten verwirrten sie ihre eigenen Gedanken. Sie wußte, daß sie ungerecht war. Es gab doch unter den Tschechen auch andere Leute als diesen Mann mit dem langen Zeigefinger. Die betretene Stille, die auf ihre Worte gefolgt war, bedeutete keineswegs, daß alle gegen sie waren.

Weitere Kostenlose Bücher