Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
längst weg waren. Es herrschte eine Stille, wie Sabina sie noch nie erlebt hatte. Nur von weit her erklang Marschmusik. Sie glaubte, in einer Muschel zu stecken und in der Ferne die Brandung einer feindlichen Welt rauschen zu hören.
Ein oder zwei Jahre, nachdem sie ihre Heimat verlassen hatte, befand sie sich ganz zufällig am Jahrestag der russischen Invasion in Paris. Eine Protestdemonstration wurde veranstaltet, und sie konnte nicht widerstehen, daran teilzunehmen. Junge Franzosen hoben die Faust und schrien Parolen gegen den sowjetischen Imperialismus. Die Parolen gefielen ihr, plötzlich mußte sie aber überrascht feststellen, daß sie unfähig war mitzuschreien. Sie hielt es nur wenige Minuten in dem Umzug aus.
Sie erzählte dieses Erlebnis französischen Freunden. Die wunderten sich: »Du willst also nicht gegen die Okkupation deines Landes kämpfen?« Sie wollte ihnen sagen, daß der Kommunismus, der Faschismus, alle Okkupationen und alle Invasionen nur ein grundsätzlicheres und allgemeineres Übel verbargen; dieses Übel hatte sich für sie zu einem Bild verdichtet: zum Umzug marschierender Menschen, die ihre Arme hoben und unisono dieselben Silben schrien. Aber sie wußte, daß sie es ihnen nicht erklären konnte. Verlegen lenkte sie das Gespräch auf ein anderes Thema.
DIE SCHÖNHEIT VON NEW YORK
Stundenlang spazierten sie durch New York: nach jedem Schritt bot sich ihnen ein neuer Anblick, als wanderten sie auf einer Serpentine in einer faszinierenden Gebirgslandschaft; mitten auf dem Gehsteig kniete ein junger Mann und betete, ein Stück weiter döste eine wunderschöne Negerin, an einen Baumstamm gelehnt, vor sich hin; ein Mann in schwarzem Anzug überquerte die Straße und dirigierte mit ausholenden Gesten ein unsichtbares Orchester; in einem Brunnen plätscherte das Wasser, und um ihn herum saßen Bauarbeiter und aßen ihr Mittagsbrot; Eisenleitern kletterten an den Fassaden scheußlicher roter Backsteinblocks hinauf, und diese Häuser waren so häßlich, daß sie schon wieder schön waren; ganz in der Nähe ragte ein gigantischer gläserner Wolkenkratzer empor, und dahinter noch einer, auf dessen Dach sich ein kleiner arabischer Palast mit Türmchen, Galerien und vergoldeten Säulen erhob.
Sie mußte an ihre Bilder denken, dort stießen auch Dinge aufeinander, die nicht zusammengehörten: ein Hüttenwerk im Bau mit einer Petroleumlampe im Hintergrund; oder eine andere Lampe, deren altmodischer Schirm aus bemaltem Glas in feine Scherben zersplittert war: die Scherben schwebten über einer öden Moorlandschaft.
Franz sagte: »In Europa war die Schönheit immer intentionaler Art. Es gab immer eine ästhetische Absicht und einen langfristigen Plan, nach dem jahrzehntelang an einer gotischen Kathedrale oder einer Renaissancestadt gebaut wurde. Die Schönheit von New York hat einen ganz anderen Ursprung. Es ist eine nicht-intentionale Schönheit. Sie ist ohne die Absicht des Menschen entstanden, wie eine Tropfsteinhöhle. Formen, die für sich betrachtet häßlich sind, geraten zufällig und ohne jeden Plan in so unvorstellbare Nachbarschaften, daß sie plötzlich in rätselhafter Poesie erstrahlen.«
Sabina sagte: »Nicht-intentionale Schönheit. Gut. Man könnte aber auch sagen: Schönheit aus Irrtum. Bevor die Schönheit endgültig aus der Welt verschwindet, wird sie noch eine Zeitlang aus Irrtum existieren. Die Schönheit aus Irrtum, das ist die letzte Phase in der Geschichte der Schönheit.«
Sie dachte an ihr erstes wirklich gelungenes Bild: es war entstanden, weil irrtümlicherweise rote Farbe auf die Leinwand getropft war. Ja, ihre Bilder waren auf der Schönheit des Irrtums begründet, und New York war die heimliche, die eigentliche Heimat ihrer Malerei.
Franz sagte: »Mag sein, daß die nicht-intentionale Schönheit New Yorks viel reicher und bunter ist als die viel zu strenge, durchkomponierte Schönheit eines von Menschen gemachten Entwurfes. Aber es ist nicht mehr die europäische Schönheit. Es ist eine fremde Welt.«
Es gibt also doch etwas, worüber die beiden sich einig sind?
Nein. Auch da gibt es einen Unterschied. Das Fremde an der Schönheit von New York wirkt auf Sabina ungeheuer anziehend. Franz ist fasziniert, aber gleichzeitig erschreckt ihn die Fremdheit; sie weckt in ihm Heimweh nach Europa.
SABINAS HEIMAT
Sabina versteht seine Abneigung gegen Amerika. Franz ist die Verkörperung von Europa: seine Mutter stammt aus Wien, sein Vater ist Franzose und er selbst ist
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