Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Rose glich, die blühte im unendlichen Schneefeld der Stille.
Der als Musik getarnte Lärm verfolgt sie seit frühester Jugend. Wie alle Studenten mußte sie die Ferien in einer sogenannten Jugend-Baubrigade verbringen. Man wohnte in Gemeinschaftsunterkünften und baute Hüttenwerke. Von fünf Uhr früh bis neun Uhr abends dröhnte Musik aus den Lautsprechern. Ihr war zum Weinen zumute, aber die Musik klang fröhlich, und es gab keine Möglichkeit, ihr zu entrinnen, weder auf der Toilette noch unter der Bettdecke, überall waren Lautsprecher. Die Musik war wie eine Meute von Jagdhunden, die man auf sie losgehetzt hatte.
Damals hatte sie geglaubt, diese Barbarei der Musik herrsche nur in der kommunistischen Welt. Im Ausland stellte sie dann fest, daß die Verwandlung von Musik in Lärm ein weltweiter Prozeß war, der die Menschheit in die historische Phase der totalen Häßlichkeit eintreten ließ. Die Totalität der Häßlichkeit äußerte sich zunächst als allgegenwärtige akustische Häßlichkeit: Autos, Motorräder, elektrische Gitarren, Preßluftbohrer, Lautsprecher, Sirenen. Die Allgegenwart der visuellen Häßlichkeit würde bald folgen.
Sie aßen, gingen auf ihr Zimmer und liebten sich. Franz' Gedanken verschwammen an der Schwelle zum Schlaf. Er erinnerte sich an die laute Musik während des Abendessens und sagte sich: der Lärm hat einen Vorteil. Man kann keine Wörter mehr hören. Es wurde ihm klar, daß er seit seiner Jugend nichts anderes tat als reden, schreiben und Vorlesungen halten, Sätze bilden, nach Formulierungen suchen und sie verbessern, so daß ihm zum Schluß kein Wort mehr präzis vorkam und der Sinn verschwamm; die Wörter verloren ihren Inhalt und wurden zu Krümeln, Spreu und Staub, zu Sand, der durch sein Gehirn stob, ihm Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit verursachte, seine Krankheit war. Da sehnte er sich unwiderstehlich, wenn auch unbestimmt, nach einer gewaltigen Musik, nach einem riesigen Lärm, einem schönen und fröhlichen Krach, der alles umarmte, überflutete und betäubte, in dem der Schmerz, die Eitelkeit und die Nichtigkeit der Wörter für immer untergingen. Musik war die Negation der Sätze, Musik war das AntiWort! Er sehnte sich danach, unendlich lange mit Sabina umarmt dazuliegen, zu schweigen, nie wieder einen einzigen Satz zu sagen und das Gefühl der Lust mit dem orgiastischen Getöse der Musik zusammenfließen zu lassen. Mit diesem glückseligen Lärm im Kopf schlief er ein.
LICHT UND DUNKEL
Für Sabina bedeutet Leben Sehen. Das Sehen wird durch zwei Pole begrenzt: das grelle, blendende Licht und das absolute Dunkel. Vielleicht kommt daher Sabinas Abscheu vor jedem Extrem. Extreme markieren Grenzen, hinter denen das Leben zu Ende geht, und die Leidenschaft für die Extreme, in der Kunst wie in der Politik, ist eine verschleierte Todessehnsucht.
Das Wort Licht erweckt in Franz nicht etwa die Vorstellung von einer Landschaft, die im sanften Widerschein des Tages daliegt, sondern von den Lichtquellen an sich: die Sonne, eine Glühbirne, ein Scheinwerfer. Er erinnert sich an bekannte Metaphern: das Licht der Wahrheit, das blendende Licht der Vernunft usw.
Er ist vom Licht genauso angezogen wie vom Dunkel. Er weiß, daß es heutzutage lächerlich wirkt, beim Lieben das Licht zu löschen, darum läßt er das Lämpchen über dem Bett brennen. In dem Moment, da er in Sabina eindringt, schließt er aber die Augen. Die Lust, die von ihm Besitz ergreift, verlangt nach Dunkel. Dieses Dunkel ist rein und absolut, ohne Vorstellungen und Visionen, dieses Dunkel hat kein Ende, keine Grenzen, dieses Dunkel ist das Unendliche, das wir alle in uns tragen. (Ja, wer das Unendliche sucht, der schließe die Augen!) In dem Augenblick, da er spürt, wie die Lust seinen Körper durchflutet, dehnt Franz sich aus, löst sich im Unendlichen seines Dunkels auf, wird selbst zum Unendlichen.
Je größer der Mann in seinem inneren Dunkel wird, desto kleiner wird seine äußere Form. Ein Mann mit geschlossenen Augen ist nur noch ein Rest seiner selbst. Sabina ist dieser Anblick unangenehm, sie will Franz nicht mehr ansehen und schließt ihrerseits die Augen. Für sie bedeutet dieses Dunkel nicht das Unendliche, sondern einzig und allein die Nichtübereinstimmung mit dem Gesehenen, die Negation des Gesehenen, die Weigerung zu sehen.
Sabina hatte sich überreden lassen, zu einem Treffen ihrer Landsleute zu gehen. Wieder einmal wurde darüber diskutiert, ob man gegen die Russen mit der Waffe in
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