Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Viel eher waren sie bestürzt über den plötzlichen Haßausbruch, über das Unverständnis, dem alle Menschen in der Emigration zum Opfer fallen. Warum taten sie ihr also nicht leid?
Warum konnte sie in ihnen nicht rührende, verlassene Geschöpfe sehen?
Die Antwort kennen wir schon: Bereits als sie ihren Vater verriet, tat sich das Leben vor ihr auf als ein langer Weg von Verrat zu Verrat, und jeder neue Verrat zog sie an wie ein Laster und wie ein Sieg. Sie will nicht, und sie wird nicht in der Reihe stehen! Sie wird nicht immer mit denselben Leuten, die immer dasselbe reden, in einer Reihe stehen! Deshalb war sie so verwirrt über ihre eigene Ungerechtigkeit. Diese Verwirrung war aber nicht unangenehm, ganz im Gegenteil: Sabina hatte das Gefühl, soeben einen Sieg davongetragen zu haben und den Applaus eines Unsichtbaren zu hören.
Doch auf diesen Rausch folgte die Angst: Irgendwo muß dieser Weg doch enden! Einmal muß der Verrat doch aufhören! Einmal muß sie doch stehenbleiben!
Es war Abend und sie hastete den Bahnsteig entlang. Der Zug nach Amsterdam stand schon bereit. Sie suchte ihren Wagen. Ein liebenswürdiger Schaffner begleitete sie zu ihrem Abteil. Sie öffnete die Tür und sah Franz auf dem aufgeschlagenen Bett sitzen. Er stand auf, um sie zu begrüßen, sie umarmte ihn und bedeckte ihn mit Küssen.
Sie verspürte schreckliche Lust, ihm wie die banalste aller Frauen zu sagen: Laß mich nicht los, behalt mich bei dir, zähme mich, bändige mich, sei stark! Aber das waren Worte, die sie weder aussprechen konnte noch wollte.
Als sie ihn losließ, sagte sie nur: »Ich bin so froh, mit dir zusammenzusein.« In ihrer zurückhaltenden Art konnte sie nicht mehr sagen als das.
5. Kleines Verzeichnis unverstandener Wörter (Fortsetzung)
UMZÜGE
In Italien oder Frankreich hat man es leicht. Wenn man von den Eltern gezwungen worden ist, in die Kirche zu gehen, so rächt man sich, indem man einer Partei beitritt (der kommunistischen, maoistischen, trotzkistischen oder einer ähnlichen). Sabinas Vater jedoch hatte sie erst in die Kirche geschickt und sie dann aus Angst selber gezwungen, dem kommunistischen Jugendverband beizutreten.
Wenn sie am Ersten Mai im Umzug mitmarschieren mußte, konnte sie nie im Schritt gehen, worauf das Mädchen hinter ihr sie anschrie und ihr absichtlich auf die Fersen trat.
Wenn sie singen mußten, kannte sie den Text des Liedes nie auswendig und bewegte nur stumm die Lippen. Ihre Kolleginnen bemerkten es und denunzierten sie. Von Jugend an haßte sie alle Umzüge.
Franz hatte in Paris studiert, und dank seiner überdurchschnittlichen Begabung war ihm schon mit zwanzig Jahren eine wissenschaftliche Karriere sicher. Bereits damals wußte er, daß er sein Leben im Arbeitszimmer der Universität, in öffentlichen Bibliotheken und im Hörsaal verbringen würde; bei dieser Vorstellung hatte er das Gefühl zu ersticken. Er verspürte Lust, aus seinem Leben herauszutreten, wie man aus der Wohnung auf die Straße tritt.
Aus diesem Grunde ging er gern auf Demonstrationen, als er in Paris lebte. Es war so schön, etwas zu feiern oder zu fordern, gegen etwas zu protestieren, nicht allein zu sein, sondern unter freiem Himmel und mit anderen zusammen.
Die Demonstrationszüge, die über den Boulevard Saint-Germain zogen oder von der Place de la Republique zur Bastille, faszinierten ihn. Die marschierende, Parolen skandierende Menge war für ihn das Bild Europas und seiner Geschichte. Europa, das ist der Große Marsch. Der Marsch von Revolution zu Revolution, von Schlacht zu Schlacht, immer vorwärts.
Ich könnte das auch anders formulieren: Franz kam sein Leben zwischen den Büchern unwirklich vor. Er sehnte sich nach dem wirklichen Leben, nach Berührung mit anderen Menschen, die an seiner Seite gingen, er sehnte sich nach ihrem Geschrei. Es war ihm nicht klar, daß gerade das, was ihm unwirklich schien (die Arbeit in der Einsamkeit vor Studierzimmer und Bibliothek), sein wirkliches Leben war, während die Umzüge, die für ihn die Wirklichkeit darstellten, nur Theater waren, ein Tanz, ein Fest, mit anderen Worten: ein Traum.
Sabina hatte während ihrer Studienzeit in einem Studentenheim gewohnt. Am Ersten Mai mußten sich alle früh am Morgen an den Sammelpunkten für den Umzug einfinden.
Damit niemand fehlte, kontrollierten Studentenfunktionäre, ob das Gebäude auch wirklich leer war. Sie versteckte sich auf der Toilette und ging erst auf ihr Zimmer zurück, als alle anderen
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