Die Ungetroesteten
hier im Augenblick tut. Sie sehen sehr erschöpft aus, Mr. Ryder. Ich will Sie auch gar nicht weiter aufhalten. Hier ist meine Karte. Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Fragen oder Probleme auftreten.«
Ich bedankte mich und sah ihr hinterher, als sie den Korridor wieder hinunterging. Als ich mein Zimmer betrat, war ich in Gedanken immer noch bei dem Gespräch und bei der Frage, wie ich das Ganze wohl zu verstehen hätte, deshalb dauerte es auch eine Weile, bis ich Gustav wahrnahm, der neben dem Bett stand.
»Ah, da sind Sie ja.«
Nach der dunklen Holztäfelung überall im Gebäude überraschte mich der helle, moderne Eindruck des Zimmers. Die Wand mir gegenüber bestand vom Boden bis zur Decke fast ganz aus Glas, und Sonnenstrahlen drangen freundlich durch die Lamellen der vertikalen Jalousie, die vor dem Fenster hing. Meine Koffer standen nebeneinander beim Schrank.
»Also wenn Sie mir noch einen Augenblick Ihre Aufmerksamkeit schenken«, sagte Gustav, »dann kann ich Ihnen noch einiges hier erklären. Damit Ihr Aufenthalt hier so bequem wie nur möglich wird.«
Ich ging mit Gustav im Zimmer umher, während er mich auf Schalter und andere Einrichtungen hinwies. Dann führte er mich auch noch ins Badezimmer, wo er seine Erklärungen fortsetzte. Ich hatte ihn schon unterbrechen wollen, so wie ich das immer mache, wenn mir ein Hoteldiener das Zimmer zeigt, doch etwas an der Eilfertigkeit, mit der er sich seiner Aufgabe widmete, etwas an seinen Bemühungen, einer Sache einen persönlichen Anstrich zu geben, die er viele Male am Tag erledigte, rührte mich sehr, und so brachte ich es nicht fertig, ihm einfach ins Wort zu fallen. Und dann, während er mit seinen Erklärungen fortfuhr und mit der Hand auf Verschiedenes im Zimmer deutete, ging mir durch den Kopf, daß bei all seiner Routiniertheit und bei all seinem Bemühen, es mir bequem zu machen, etwas wieder die Oberhand gewonnen hatte, was ihn schon den ganzen Tag beschäftigen mußte. Mit anderen Worten, er machte sich wieder einmal Sorgen um seine Tochter und ihren kleinen Sohn.
Als ihm das Arrangement vor einigen Wochen vorgeschlagen worden war, hatte Gustav mit nichts anderem gerechnet, als daß das Ganze für ihn ein reines Vergnügen sein würde. An einem Nachmittag in der Woche sollte er mit seinem Enkel spazierengehen, so daß Sophie ein bißchen Zeit für sich hätte. Tatsächlich hatte sich das Arrangement von Anfang an als großer Erfolg erwiesen, und innerhalb weniger Wochen hatten Großvater und Enkel zu einer für beide Seiten höchst angenehmen Gewohnheit gefunden. An den Nachmittagen, an denen es nicht regnete, begannen sie ihre Runde stets im Park bei den Schaukeln, wo Boris seinen neuesten Wagemut unter Beweis stellen konnte. Wenn es regnete, fingen sie ihren Spaziergang beim Schiffsmuseum an. Dann gingen sie durch die engen Straßen der Altstadt, schauten in verschiedene Geschenkartikelläden hinein und blieben vielleicht auf dem Alten Platz stehen, um einem Pantomimen oder Akrobaten zuzusehen. Da man den ältlichen Hoteldiener in der Gegend recht gut kannte, waren sie nie lange unterwegs, ohne daß sie jemand grüßte, und Gustav bekam viele Komplimente zu seinem Enkel zu hören. Als nächstes gingen sie dann zu der alten Brücke, um zuzuschauen, wie die Boote darunter hindurchfuhren. Der Rundgang endete dann immer bei einem ihrer Lieblingscafés, wo sie Kuchen oder Eis bestellten und auf Sophies Rückkehr warteten.
Anfangs hatten diese kleinen Ausflüge Gustav mit immenser Genugtuung erfüllt. Doch da er Tochter und Enkel nun weit häufiger sah, mußte er bald gewisse Dinge zur Kenntnis nehmen, die er sonst wohl immer weiter verdrängt hätte, bis es ihm nicht mehr möglich gewesen wäre, so zu tun, als sei alles in bester Ordnung. Da war zunächst einmal das Problem von Sophies Stimmungslage. Während der ersten Wochen ihres Arrangements hatte sie sich fröhlich von ihnen verabschiedet und war zum Einkaufen ins Stadtzentrum geeilt oder zu einem Treffen mit Freunden. Doch in letzter Zeit schlich sie immer so lustlos davon, als sei sie sich ganz fremd geworden. Außerdem gab es deutliche Anzeichen dafür, daß sich die Probleme, welcher Art sie auch sein mochten, allmählich auf Boris auszuwirken begannen. Zwar war sein Enkel meistens so gut gelaunt wie eh und je. Doch dem Hoteldiener war aufgefallen, daß dann und wann, besonders wenn die Rede aufs Familienleben kam, eine Wolke den Gesichtsausdruck des kleinen Jungen verdüsterte.
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