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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Dinge sieht, wenn man sich etwas ausgeruht hat. Danach könnte ich dann Miss Stratmann aufsuchen, das Mißverständnis aus dem Weg räumen, eine Kopie meines Terminplans in Empfang nehmen und mit ihr alles klären, was noch einer Klärung bedurfte.
    Ich war gerade dabei einzudösen, als mich plötzlich etwas veranlaßte, die Augen noch einmal zu öffnen und wieder an die Decke zu starren. Eine ganze Weile musterte ich die Decke sehr aufmerksam, dann setzte ich mich im Bett auf und sah mich um, das Gefühl des Wiedererkennens wurde von Sekunde zu Sekunde stärker. Das Zimmer, in dem ich mich befand, so erkannte ich, war haargenau dasselbe Zimmer, das mir während der zwei Jahre, die ich mit meinen Eltern im Haus meiner Tante an der englisch-walisischen Grenze verbracht hatte, als Schlafzimmer gedient hatte. Ich sah mich noch einmal in dem Zimmer um, dann legte ich mich wieder hin und starrte weiter an die Decke. Sie war vor kurzem frisch getüncht und gestrichen worden, sie war jetzt größer, die Kranzleisten waren entfernt worden, die Verzierungen um die Deckenleuchte herum waren ganz andere. Aber es war unverkennbar dieselbe Decke, an die ich damals von meinem schmalen quietschenden Bett aus so oft gestarrt hatte.
    Ich drehte mich auf die Seite und schaute hinunter auf den Fußboden neben dem Bett. Genau dort, wo ich mit den Füßen aufkommen würde, hatte das Hotel einen dunklen Bettvorleger plaziert. Mir fiel ein, daß damals dasselbe Stückchen Fußboden ein abgenutzter grüner Vorleger bedeckt hatte, auf dem ich mehrmals in der Woche in sorgfältiger Formation meine Kunststoffsoldaten aufzubauen pflegte – insgesamt über einhundert, die ich in zwei Keksdosen aufbewahrte. Ich streckte meine Hand aus und ließ meine Finger über den Hotelvorleger gleiten, und dabei kam mir ein Nachmittag ins Gedächtnis, als ich in meine Kunststoffsoldaten-Welt versunken war und als unten plötzlich ein lauter Streit ausbrach. Die Stimmen waren so laut und erbost, daß sogar ich als sechs- oder siebenjähriges Kind begriff, daß dies kein gewöhnlicher Streit war. Doch ich hatte mir eingeredet, es sei weiter nichts, und so legte ich meine Wange wieder auf den grünen Vorleger und ließ meine Schlachtpläne weiter gedeihen. Ungefähr in der Mitte dieser grünen Matte befand sich ein Riß, der für mich immer Anlaß beträchtlicher Verärgerung gewesen war. Doch an dem Nachmittag, als die Stimmen unten weiter wüteten, kam mir zum erstenmal in den Sinn, daß dieser Riß als eine Art Dickicht dienen könnte, durch das sich meine Soldaten schlagen müßten. Diese Entdeckung – daß nämlich der Schönheitsfehler, der meine Phantasiewelt immer zu gefährden drohte, in das Spiel einbezogen werden könnte – war für mich außerordentlich aufregend, und dieses »Dickicht« sollte ein Schlüsselelement in den vielen Schlachten werden, die ich danach noch inszenierte.
    All dies fiel mir wieder ein, während ich weiter an die Decke starrte. Natürlich war mir die ganze Zeit vollkommen bewußt, daß überall im Zimmer gewisse Dinge verändert oder entfernt worden waren. Doch die Erkenntnis, daß ich mich nach all der langen Zeit wieder in meinem Kindheitsrefugium befand, führte dazu, daß sich ein tiefes Gefühl des Friedens über mich senkte. Ich schloß die Augen, und für einen Augenblick war mir so, als sei ich wieder von all den alten Möbeln umgeben. In der Ecke hinten zu meiner Rechten der große weiße Schrank mit dem zerbrochenen Türknauf. Das Bild meiner Tante mit der Kathedrale von Salisbury an der Wand am Kopfende meines Bettes. Das Nachttischchen mit seinen zwei winzigen Schubladen, in denen meine kleinen Schätze und geheimen Besitztümer lagen. Die ganze Anspannung des Tages – der lange Flug, das Durcheinander wegen meines Terminplans, Gustavs Probleme – schien zu weichen, und ich spürte, wie ich in einen tiefen und erschöpften Schlaf sank.

ZWEI
    Als ich durch das Telefon auf dem Nachttisch geweckt wurde, hatte ich das Gefühl, daß es schon eine ganze Weile geklingelt haben mußte. Ich nahm den Hörer ab, und eine Stimme sagte:
    »Hallo? Mr. Ryder?«
    »Ja, hallo.«
    »Ah, Mr. Ryder. Mein Name ist Hoffman, ich bin der Hoteldirektor.«
    »Ah ja. Guten Tag.«
    »Wir freuen uns so sehr, Mr. Ryder, Sie endlich bei uns zu haben. Seien Sie herzlich willkommen.«
    »Danke.«
    »Ganz besonders herzlich. Sorgen Sie sich bitte nicht wegen Ihrer verspäteten Ankunft. Ich glaube, Fräulein Stratmann hat es Ihnen schon

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