Die unglaubliche Entdeckung des Mr. Penumbra (German Edition)
Bibliotheksverzeichnis revidiert und aktualisiert, und obwohl du die Bibliothek liebst, klingt das nicht wie ein aufregender nächster Schritt. Der Gedanke muss dir im Gesicht gestanden haben, denn Armitage führt weiter aus:
»Nein, mein Junge. Ich meine den Stab für die Neuerwerbungen .«
Die vier Jahre Okkult-Lit.-Kurse waren eine mehr oder weniger unaufhörliche Werbekampagne für den Mitarbeiterstab für Neuerwerbungen der Bibliothek des Galvanic College. Er bildet den langen Arm der Bibliothek und die Quelle ihres bibliografischen Reichtums. Manchmal siehst du seine Mitglieder in den oberen Stockwerken der Bibliothek, wie sie im Halbdunkel mit sich zurate gehen, wie sie leise in fremden Sprachen miteinander sprechen, wie sie nachdenklich an seltsamen Narben reiben.
In jenem Sommer beginnst du deine Lehre im Stab für Neuerwerbungen, was einem Masterstudiengang gleichkommt, nur ohne Abschluss. Du wirst dafür bezahlt, die Klassiker zu lesen und ebenso Bücher, die Klassiker wären , wenn sie einer anderen Bibliothek als der des Galvanic College gehörten. Du wirst dafür bezahlt, Sprachen zu lernen: natürlich Griechisch und Latein, aber auch ältere – Aramäisch, Sanskrit und Protophönizisch, das möglicherweise die Sprache von Atlantis gewesen ist.
In Galesburg geht deine Mutter in den Ruhestand, und die Marching Band spielt auf dem Rasen vor deinem alten Elternhaus ein Abschiedskonzert. Dein Vater wird krank, muss für einen Monat ins Krankenhaus, erholt sich wie der – auch wenn danach seine Stimme für immer anders ist. Weicher. Er gründet eine neue Zeitschrift, Interrupciones.
Die Dinge entwickeln sich langsamer, als du vielleicht erwartet hattest. Jahre vergehen, bis Langston Armitage der Meinung ist, dass du für deinen ersten Auftrag bereit bist. An jenem Tag ruft er dich in sein Büro, befördert dich zum Junior-Assistenten und erteilt dir deinen ersten Auftrag: die Beschaffung eines Buchs mit dem Titel Techne Tycheon .
Du übersetzt aus dem Griechischen: »Die Kunst oder das Handwerk der Wahrsagerei.«
»Sehr gut. Es hat eine lange Geschichte … hier.« Er zieht eine pralle Mappe mitten aus dem Papierturm, der sich auf seinem Schreibtisch erhebt. Dabei rutschen auch andere Mappen aus dem Stapel heraus und ergießen ihren Inhalt auf den Boden. »Das hier« – er klopft auf die Mappe – »ist die Arbeit eines anderen Kollegen aus dem Stab für Neuerwerbungen, Jack Brindle. Sie werden sehen, dass die Spur seit etwa 1657 kalt ist.«
»Was ist mit Brindle passiert?«
»In Macao gestorben. Mysteriöse Geschichte. Wie auch immer … 1657. Da nehmen Sie die Spur wieder auf.«
Du erfährst, dass das Tycheon – wie es salopp von den etwa drei lebenden Personen genannt wird, denen seine Existenz etwas bedeutet – sich keiner großen Auflage erfreut hat, dass aber die wenigen Ausgaben, die es überhaupt gab, ziemlich Eindruck hinterließen. Es ist offensichtlich ein Buch der Weissagung, und Brindles Mappe ist voller vielsagender Fragmente. 1511 rühmt ein Kaufmann aus Liverpool seine Vor züge. Knapp ein Jahrhundert später, 1601, kann ein Wahrsager in London nicht ohne es auskommen. Der Lehrling des Wahr sagers preist das Tycheon genauso überschwänglich, übersieht aber offensichtlich eine wichtige Weissagung. Er wird 1657 ermordet. Die Spur wird rot und kalt.
Deine Mission beginnt. Du fährst mit dem Zug nach Urbana, Chicago, East Lansing und Ann Arbor. In Universitätsbibliotheken und Antiquariaten sammelst du Bruchstücke, verbeißt dich in Fußnoten und stellst mit der Zeit eine eigene pralle Mappe zusammen. Sie erweist sich als ebensowenig nützlich wie die von Brindle. Du verschickst Anfragen in alle Himmelsrichtungen, erhältst aber nur bedauernde Absagen.
Du beginnst die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass das Tycheon einfach verschollen sein könnte. Du teilst deine Vermutung Langston Armitage mit, der dich daran erinnert, dass deine Kollegin Carol Janssen erst kürzlich das sechshundert Jahre alte Buch der Träume der Inkas aufgespürt hat. »Es bestand ausschließlich aus verknoteten Fäden, mein Junge«, krächzt er. »Sie hatten es aufgetrennt und Pullover daraus gemacht.« Mit Nachdruck wiederholt er es: »Es war in den … Pullovern der Dorfbewohner.«
Du lässt nicht locker. Du spürst Quittungen auf, rekon struierst Inventarverzeichnisse. Und dann: ein Durchbruch.
In den Unterlagen eines bibliophilen Chirurgen aus New York namens Floyd Deckle findet
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