Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
eigentlich nie Lust auf irgend so eine Praxis gehabt. Die passte nicht zu meinem Gemüt. In erster Linie hatte ich mich eigentlich nur Sigrid zuliebe der Aufgabe gewidmet, und jetzt spielte das keine Rolle mehr. Schürfwunden, Influenza, irgendwelche Infektionen, allgemeiner Trost, Rezepte und Magenkneifen und Albträume. Ich hatte meinen Platz gefunden. Die Wissenschaft, Ameisenhügel und Pyramiden werden von unten aufgebaut. So vergingen auch diese Tage: von unten. Der Nürnberger Hof wechselte klugerweise seinen Namen in Restaurant Georges und wurde wieder ein beliebter Treffpunkt für die Mediziner. Sigrids Eltern starben, einer nach dem anderen. Die Nachbarin über mir starb. Meine Mutter starb. Ich erhielt von den Behörden down under einen Brief, der viele Umwege gemacht haben musste. Sie war vor drei Monaten gestorben. Ich dachte an den vorherigen Brief, den ich bekommen hatte, in dem sie schrieb, dass es in Neuseeland Dienstag war, wenn es bei uns Montag war. Hätte darin gestanden, dass sie gestern gestorben war, wäre sie dann heute noch am Leben gewesen? Ich nahm an, dass Signe, unsere alte Haushaltshilfe, auch tot war, da sie nicht selbst schrieb. Die Toten waren in der Mehrzahl. So vergingen diese Jahre: von unten. Und eines Morgens im Dezember 1973 wachte ich von einer sonderbaren, fast erschreckenden Stille auf. Hatte ich mich bereits der Mehrheit angeschlossen? Ich schaute hinaus. Der Skovveien war frei von Autos. Die Leute gingen mitten auf der Straße, einige sogar auf Skiern. Einen Moment lang kam mir der Gedanke: Ich bin nicht tot. Ich bin nur zu einem früheren Leben erwacht. Ich war im Oslo des Alters eingeschlafen und stand auf im Kristiania meiner Kindheit. Und ich beschloss, mir freizunehmen. Ja, ich wollte mir freinehmen und mich hinauswagen. Mir kam diese verrückte Idee, Ski zu laufen. Ich fand mein altes Paar im Kellerverschlag, dazu ein paar Stöcke, das dauerte natürlich seine Zeit, aber am Vormittag stapfte ich jedenfalls hinüber nach Majorstuen, übermütig und leichtsinnig, ein paar freundliche, langhaarige Jugendliche halfen mir, die Skier in den Riemen am Straßenbahnwagen zu befestigen, die Stöcke nahm ich mit hinein, und andere noch freundlichere Jugendliche standen auf, so dass ich sitzen konnte. Höflichere Jungen und Mädchen hatte ich selten erlebt. Das war also die Ölkrise. Sie machte uns menschlicher. Es war fast wie im Krieg. Das würden wir auch noch schaffen. In harten Zeiten hielten wir zusammen. Im Überfluss ging es darum, den anderen zu übertrumpfen. Ich saß in meiner alten Bahn, in meiner alten Spur. Wie konnte ich nur! Wie konnte ich es wagen! Denn da sah ich, wer da im anderen Wagen saß, oder war es sogar im selben, jedenfalls war es nicht im Raucherwagen. Es war König Olav V. Doch, er war es. Er kaufte ganz normal eine Fahrkarte. Er war zum Volk hinabgestiegen. Wollte er auch von unten anfangen? Habe ich es nicht gesagt? Wir waren menschlich geworden. Wir kamen an Slemdal vorbei. Jetzt war ich an der Reihe. Oh du Tölpel! Du kleiner Stutenfreund! Wohin?, fragte der Schaffner und beugte sich näher zu mir. Ich hielt mir sofort die Hand vor den Mund. Frognerseteren. Wohin sonst? Ich will doch Ski fahren. Sehen Sie das nicht? Ich bezahlte, bekam meinen Fahrschein. Es war still im Wagen, aus Rücksicht auf Olav, wie ich annahm. Wollte er allein Ski fahren? Es schien so. Wir konnten zusammen fahren! Zwei Witwer! Schließlich waren wir fast gleichaltrig, es trennten uns nur drei Jahre, zu seinen Gunsten, wenn ich mich recht erinnerte. Aber ich würde schon den Anschluss halten. Ich stand auf und stellte mich an die Türen. Ich musste mich beeilen, wenn ich es schaffen wollte, die Skier zu holen, bevor die Bahn wendete und wieder hinunterfuhr. Es gab wenig Platz. Warum hatte ich die Dettweiler nicht mitgenommen? Mein Mund floss fast über vor Speichel. Ich umklammerte die Stöcke. Tölpel. Dudelsack! Stutenfreund! Er saß so, dass er mich ansah.
»Hat Ihr Vater irgendwann einmal etwas von einem Schnürsenkel erwähnt?«
Olav, der König, lächelte nur vorsichtig, ein königliches Lächeln.
»Er lag in einem Etui zusammen mit dem St.-Olavs-Orden. Ich war es nämlich, ich habe ihn da reingelegt! Für meinen Vater.«
Wieder schnell die Hand vor den Mund, der Blick auf die Schuhe.
Hatte ich geredet? Hatte König Olav etwas gehört? Ich könnte heute noch einen Salto mortale schlagen und einen Veitstanz im Schlafzimmer veranstalten, wenn ich daran denke.
Er
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