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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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kann jeder in mir den Verrat sehen.
    Zum Glück sagt mir die große Anzeigetafel, dass der nächste Zug nach Berlin in weniger als zehn Minuten fährt. Ich ziehe den Gurt meiner Reisetasche fester, klammere mich mit den Händen daran fest wie an einem Rettungsring und suche sofort den ausgewiesenen Bahnsteig auf. Der quillt leider über vor lauter Leuten. Das ist nicht gut, dabei hätte ich mir doch eigentlich denken können, dass zwischen den Metropolen Hamburg und Berlin am ersten Ferienwochenende die Hölle los sein würde. Zu den üblichen Pendlern, Angehörigen der Bundeswehr, Studenten, für die der Semesterbeginn unmittelbar bevorsteht, und Tagestouristen, gesellen sich hier noch Kleinfamilien und Reisegruppen, und sie alle lärmen und laufen wirr und wie kopflos herum. Dazu kommen dann noch jede Menge mitgeführte Hunde, die mindestens ebenso reizüberflutet sein müssen wie ich und ihre Überreizung wohl am liebsten an den auch hier überall herumflatternden und -stolzierenden Tauben auslassen wollen würden, wenn man sie nur von der Leine ließe. So kläffen und fletschen sie nur wie wild ihre Zähne, was die Tauben mit einem süffisanten Gurren beantworten. Die Tauben machen sich über die Hunde lustig, die ihnen gar nichts anhaben können, und über die Menschen, die sich ebenso hilflos fühlen wie die an der kurzen Leine gehaltenen, immer wieder zur Ordnung gerufenen Tölen, über mich.
    Einmal mehr wünsche ich mir Klaus an meine Seite, als Stütze, als Kraftquelle. Riefe ich ihn an, sagte ihm, ich sei in Hamburg und würde gern spontan vorbeikommen, ohne auch nur einen oder gar den echten Grund zu nennen, er würde mich wahrscheinlich sogar abholen kommen. Und genau darum geht das nicht, kann das nicht mein Ausweg sein, zu oft habe ich ihn angelogen, seine Gastfreundschaft und sein breites, unerschütterlich starkes Kreuz missbraucht, um mich dahinter vor der Scheiße zu verstecken, in die ich mich kurz zuvor selbst geritten habe. So wie damals, vor drei Jahren ungefähr, als das mit Markus in die Brüche ging. Ungeschützt mit mir zu schlafen, war für ihn kein Problem gewesen, er hatte sogar darauf beharrt, es überhaupt nur ohne Gummi tun zu können, weil er sonst nichts mehr spürte, wenn er seinen Schwanz beim Sex in Plastik einwickeln müsste. Ich hätte ihm sagen können, er sei ein Gefühlskrüppel, wenn er nur mit dem Schwanz, nicht aber auch mit dem Rest seiner Haut etwas fühlen könne, und solle sich gefälligst zum Teufel scheren, stattdessen hieß ich ihn ob seines unkomplizierten Wesens nur umso begieriger willkommen. Und dann stellte der Scheißkerl sich nach gut drei Monaten hin und sagte mir, es sei aus zwischen uns, er würde mich verlassen, es sei zwar schön mit mir gewesen, er würde mich aber nicht lieben und sähe sowieso keine Chance für eine gemeinsame Zukunft, und das sei nun mal das Einzige, wonach er wirklich suche. Eine gemeinsame Zukunft hatte ich für uns auch nie im Sinn gehabt, nur hätte ich ihm das niemals so offen und direkt ins Gesicht gesagt. Gerade durch seine Direktheit fühlte ich mich brüskiert, seine Ehrlichkeit empfand ich, weil ich sie selbst niemals zustande gebracht hätte, als glatte Kränkung. Ob er nun wirklich in allem, was er gesagt hatte, ehrlich gewesen sein mochte oder nicht, es war mehr und deutlicher als alles, was ich ihm jemals hätte sagen können.
    Ich stürzte in ein tiefes Tal der Tränen, auf dessen Grund ich nichts anderes als Selbstmitleid fand. Das machte alles noch unerträglicher, zumal das schnell noch um Wut, verletzte Eitelkeit und das altbekannte Schuldgefühl, einmal mehr unter der fadenscheinigsten Begründung auf jeden Schutz verzichtet zu haben, angereichert wurde. Also überfiel ich Klaus wie eine Blitzkriegarmee, nistete mich mehrere Tage bei ihm ein und jammerte ihm die Ohren voll, wie schrecklich doch alles sei, allen voran die Kerle: Ich erzählte ihm, Markus hätte mich für einen anderen verlassen und log auch sonst, dass sich die Balken nur so bogen.
    »Aber du sagtest doch, ihr wärt so glücklich miteinander?«, wunderte sich Klaus.
    »Na ja, das waren wir ja auch, anfangs wenigstens.«
    »Ja?«
    »Ja, aber es gab schon ziemlich schnell Probleme.«
    »Welcher Art?«
    Ich zögerte keine Sekunde mit der Antwort: »Er wollte bald ohne Gummi mit mir schlafen.«
    »Und du nicht.«
    »Natürlich nicht! Ich bin doch kein Idiot.«
    »Zum Glück nicht.«
    »Ich hab immer aufgepasst, wenn du mir was beigebracht hast.«
    Die

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