Die unsicherste aller Tageszeiten
gemeinsam die langen Wochen auf unser Ergebnis und konnten dann kaum glauben, dass das so unterschiedlich ausfallen konnte. Ich kann es bis heute nicht glauben, dass nur er und nicht auch ich positiv war. Ich hätte ebenfalls infiziert sein müssen, ich müsste auch längst tot sein. Wieso habe ich überlebt und er und all die anderen nicht?«
Er sah aus, als fühlte er sich schuldig deswegen, dabei konnte er doch nun wirklich nichts dafür – aber nicht einmal das konnte ich ihm sagen, um ihn zu trösten.
Alles, was ich über
safer sex
weiß, habe ich von Klaus gelernt. Er war der Erste, der unmissverständlich klar machte, dass ohne Gummi bei ihm nichts lief. So war er immer peinlich genau darauf bedacht, die Flüssigkeiten des einen Körpers, von Speichel einmal abgesehen, aber selbst mit dem ging er sehr vorsichtig um, nicht auch nur in die Nähe der Öffnungen des anderen Körpers gelangen zu lassen. Selbst wenn das hieß, dafür einen lustvollen Vorgang mittendrin zu unterbrechen, und es mir oft reichlich übertrieben vorkam, geradezu vorsintflutlich.
»Erst AIDS hat aus mir einen politischen Menschen gemacht«, wechselte er abrupt das Thema, »erst AIDS! Vorher habe auch ich nur versucht, nicht aufzufallen, keinen Anstoß zu erregen. Aber dann sind nach und nach alle meine Freunde gestorben, krepiert sind sie, und dazu mussten sie sich auch noch das Hohngelächter und Angstgeschrei der Leute anhören. Anstatt ihnen zu helfen, sah es zeitweilig so aus, als würde man die KZ wieder öffnen für die Infizierten und die Kranken, und das wären dann auch gleich wieder echte Todeslager geworden. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass man sich dann noch, nachdem man uns interniert hätte, die Mühe gemacht hätte, nach einer Heilung zu suchen. Dann hätte man der Natur einfach ihren Lauf gelassen und im Übrigen versucht, den Mantel des Schweigens über diese Hartherzigkeit zu decken. Dagegen habe ich zum ersten Mal in meinem Leben aktiv gekämpft.«
Er sah mich an und musste plötzlich lächeln.
»Ich weiß, für euch Jungen ist das alles heute kaum mehr nachvollziehbar, ihr denkt und sprecht ganz anders darüber. Für euch ist Aids ein ganz normales Wort geworden, eine zumindest in Teilen beherrschbare Krankheit, an der man nicht mehr zwangsläufig sterben muss. Wir Alten hingegen sagen immer noch AIDS, was eine Abkürzung aus vier Großbuchstaben ist, unter der sich der Abgrund des Acquired Immune Deficiency Syndrome auftut, eine Krankheit, so neuzeitlich und modern vielfältig, dass sie nicht einmal mehr einen lateinischen oder griechischen Namen hat, sondern nur noch einen englischen.«
KAPITEL 9
Ich bin zurück in Hamburg, und es ist mir fast unangenehm, ausgerechnet jetzt aus- und umsteigen zu müssen. Nicht weil ich so bequem gesessen hätte, sondern weil ich mich kaum aus meinen Gedanken befreien kann, die mich gefangen halten wie ein Gestrüpp aus dornigen Schlingpflanzen, in das ich rücklings gefallen bin. Bei jeder Bewegung reiße ich mir die Haut auf, tritt Blut aus, verspüre ich einen brennenden Schmerz. Und wenn weglaufen also nicht mehr möglich ist, ist es am besten, in völliger Bewegungslosigkeit zu verharren, um weitere Verletzungen zu vermeiden. Aber das geht ja nicht, ich muss aussteigen, dieser Zug fährt in die falsche Richtung weiter.
Auf dem Bahnsteig erfasst mich ein Schwindel, die flirrenden Geräusche, das Ziehen der von den Zügen zu künstlichen Böen zusammengeballten Luft und die vielfältigen Gerüche nach Maschine, Fast Food und Mensch treffen auf ein Nervensystem, das sich in einem noch schlimmeren Zustand befindet als gestern zu Beginn meiner Reise. Mein Nervenkostüm hängt in Fetzen von mir herab, Selbstvorwürfe und Angst haben es so zugerichtet, dass jeder neue Reiz, der darauf trifft, wie ein Schlag wirkt, unter dem ich wanke. Ich möchte mich nur noch verkriechen, an einem warmen dunklen Ort, wo ich sicher bin vor fremden Blicken, die mich jetzt vollkommen durchschauen, denen ich nicht mehr auch nur das Geringste vormachen kann. Ich muss durchsichtig geworden sein, meine äußere Hülle hat sich zersetzt, aufgelöst und die Sicht frei gemacht auf mein Innerstes, auf den Inhalt meiner Blutbahnen, wo jeder sehen kann, dass es da neben den roten und den weißen Blutkörperchen noch etwas Drittes, Fremdes in mir gibt, das dort nicht hingehört und mich, bevor es mich vollends zerstört haben wird, noch als Wirt missbraucht, um von mir auf andere überzuspringen. Jetzt
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