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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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einen Weltrekord für Freistil und Rücken auf.«
    »Daran zweifle ich keine Sekunde«, erwiderte Andras.
    Das war, noch bevor die Flucht eine reale Möglichkeit wurde, bevor die Kinder begonnen hatten, sich ihr zukünftiges Leben jenseits des Atlantiks vorzustellen. Jetzt dauerte es nicht mehr lange; nur wenige Kleinigkeiten waren noch zu regeln, die Angelegenheit eingeschlossen, die Andras am Vormittag im Innenministerium erledigen wollte. Tamás hatte Andras, Klara und Mátyás begleiten wollen, um die neuen Ausweise abzuholen. Am vergangenen Abend hatte er mit ernstem Gesichtsausdruck im Wohnzimmer vor Andras gestanden, die Arme vor der Brust verschränkt. Er habe die Schulstunden für die nächsten beiden Tage bereits vorgearbeitet, verkündete er. Er würde gar nichts verpassen, wenn er mit ihnen käme.
    »Du musst zur Schule gehen«, sagte Andras. Er erhob sich von seinem Stuhl und legte Tamás einen Arm um die Schultern. »Du willst doch nicht, dass dir die Schüler in Amerika voraus sind.«
    »Darüber mache ich mir keine Sorgen«, erwiderte Tamás. »Ich verpasse doch nur einen Nachmittag. In Amerika haben sie jede Woche samstags und sonntags frei.«
    »Ich lege dir deinen neuen Ausweis auf den Schreibtisch«, sagte Andras. »Dann wartet er auf dich, wenn du von der Schule heimkommst.«
    Tamás warf Klara einen bittenden Blick zu, die an ihrem Schreibtisch am Fenster saß; sie schüttelte den Kopf und sagte: »Du hast deinen Vater gehört.«
    Achselzuckend verkündete Tamás mit einem Seufzer, dass alles ungerecht sei, dann gab er auf und trollte sich den Flur hinunter in sein Zimmer. »Als ob die mir voraus sein könnten«, hörten sie ihn sagen, bevor er die Tür schloss.
    Klara sah zu Andras hinüber und unterdrückte ein Lachen. »Er ist schon längst erwachsen, nicht?«, sagte sie. »Was soll er nur in Amerika machen, wenn die anderen Kindern Bananensplit essen und Rock and Roll hören?«
    »Er wird Bananensplit essen und Rock and Roll hören«, prophezeite Andras, was sich tatsächlich als richtig erweisen sollte.
    Andras und Mátyás hatten sich an jenem Tag freigenommen, um zum Innenministerium zu gehen. Sie waren bei Magyar Na tion angestellt, einer zweitrangigen kommunistischen Zeitschrift, für deren Gestaltung sie verantwortlich waren; am Vorabend waren sie lange aufgeblieben und hatten die Gewinner eines Schülerwettbewerbs zum Thema Winter festgelegt. Das Gewinnerbild zeigte eine Eislaufbahn; Sport war ein unverfängliches Motiv, da die Wettbewerbsbestimmungen jede Einsendung disqualifizierten, die Weihnachtliches darstellte. Der Feiertag gehörte zum alten Ungarn, zumindest offiziell. Natürlich wurde noch immer Weihnachten gefeiert; darauf verließen sie sich alle – Andras und Mátyás, Klara, Tamás und Április. In wenigen Wochen würden sie an Weihnachten einen Zug nach Sopron nehmen, dort zehn Kilometer durch den Schnee zu einer Stelle wandern, wo sie unbemerkt die österreichische Grenze überqueren könnten; das würde ihnen nur deshalb gelingen, weil die Grenzpatrouille Wodka trank und in ihrem warmen Quartier Weihnachtslieder hörte. In Österreich würden sie einen Zug nehmen, der sie nach Wien brachte, wo Polaner seit seinem Grenzübertritt im November lebte. Von Wien aus würden sie gemeinsam nach Salzburg weiterreisen und dann nach Marseilles. Wenn alles gut ging, würden sie am zehnten Januar an Bord eines Ozeandampfers gehen, der sie nach New York brachte, wo József Hász ihnen eine Wohnung besorgt hatte.
    Doch zuerst mussten sie die Sache mit der Namensänderung und den neuen Pässen erledigen. Acht Wochen zuvor hatten sie den Antrag eingereicht; die Bearbeitung hatte sich, wie alle Verwaltungsangelegenheiten, in der Verwirrung um die misslungene Revolution jenes Herbstes in die Länge gezogen. Selbst jetzt, weniger als einen Monat nachdem der Aufstand erstickt worden war, konnte Andras kaum glauben, dass es tatsächlich eine Revolution gegeben hatte – dass die öffentlichen Debatten der Petőfi-Gesellschaft, einer kleinen Gruppe Budapester Intellektueller, gewaltige Studentenproteste ausgelöst hatten, dass Ernő Gerő, die Marionette Moskaus, durch die Studenten und ihre Unterstützer seines Postens enthoben worden und der Reformer Imre Nagy als Premierminister eingesetzt worden war; dass sie die zwanzig Meter hohe Stalinstatue in der Nähe des Heldenplatzes umgerissen und in seine leeren Stiefel ungarische Flaggen gesteckt hatten. Die Demonstranten hatten freie

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